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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Preußens. Die an Hannovers Nordseeküste wohnenden Friesen endlich sind der Kern jener Opposition, die weder an eine Dauer des „Welfenreiches“ bis an das Ende der Tage glauben, noch sich, außer für die deutsche, für eine hannöver’sche Nationalität erwärmen will. Und selbst in Pommern und Mecklenburg regt sich in neuester Zeit wieder jener zähe und von seinem Rechtsbewußtsein getragene Widerstandsgeist gegen die Uebergriffe von Junkern und Pfaffen, der dereinst die zur Hansa gehörigen Städte dieser Lande auszeichnete.

Aber das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit aller Niederdeutschen reicht noch weiter als bis zu den Zeiten der Hansa zurück. Schon Civilis, der kühne Heerführer der heidnischen Vorfahren der heutigen Niederländer, der Bataver, forderte, als er sich gegen die Römer empörte, die Seinen zum Bündniß mit Deutschland auf, indem er sie darauf hinwies, daß die Deutschen ihre „Blutsverwandten“ seien. Das Bewußtsein dieser nationalen Zusammengehörigkeit tritt auch in späteren Epochen mannigfach hervor. Im Mittelalter standen die Niederlande, von verschiedenen Herzögen und Grafen beherrscht, unter der Oberlehnsherrlichkeit der deutschen Kaiser, später bildeten sie sogar einen der zehn Kreise des deutschen Reiches. Und neben einer solchen äußeren wuchs auch die tiefste innerste Gemeinschaft zwischen Niederländern und Deutschen. Dies lehrt am überzeugendsten die deutsche Reformation. Ihr unwiderstehliches Eindringen in die Herzen und Gemüther der ihren deutschen Nachbarn gleichgearteten Niederländer gab den ersten Anlaß zum Abfall derselben von dem finster katholischen Spanien. Und hier wird es nun schon interessant für den Punkt, von dem wir ausgingen, für das germanische Element in Belgien, daß es gerade die vlämischen Provinzen der Niederlande waren, in denen die Bewegung zuerst und am gewaltsamsten aufloderte. Wenn auch Belgien wieder katholisirt wurde, so lebt doch auch heute noch in seinen Bewohnern der alte germanisch-protestantische Geist der Freiheit fort und liefert in den Brüsseler Kammern den Ultramontanen seine Schlachten. –

Auch in der Kunst gingen Niederländer und Deutsche von jeher Hand in Hand. Der Vater der gesammten Kunstentwicklung in den Niederlanden, Johann van Eyck, ist im Limburg’schen, also dem Theile Hollands geboren, der heute noch zu Deutschland gehört, und empfing seine erste Anregung durch die altdeutsche Malerschule im benachbarten „heiligen“ Köln. Nach den Freiheitskriegen spaltete sich die niederländische Schule bekanntermaßen in die nördliche holländische und die südliche flandrische. Während der bedeutendste Meister der ersteren, Rembrandt vom Rhein, am vaterländischsten unserer Ströme geboren wurde, sollte auch der hervorragendste Meister der flandrischen Schule, Peter Paul Rubens, Deutschland angehören. Er sowohl wie der herrlichste Held der Freiheitskriege der Niederländer, Wilhelm von Oranien, stammen aus dem kleinen Ländchen Nassau.

Wie in der Malerei die Niederländer von Deutschland her die erste Anregung empfingen, so sollten in der Tonkunst die Deutschen umgekehrt bei den Niederländern in die Schule gehen. Schon im neunten Jahrhundert begegnen wir in dem vlämischen Kloster St. Amand einem Mönche Hukbald, der den Versuch wagt, Gesang mit mehreren Stimmen zu begleiten. Doch erst mit Orlandus Lassus erreicht die niederländische Tonkunst ihre höchste Blüthe. Mit ihm beginnt auch die Einwirkung derselben auf Deutschland und zwar durch den herrlichen thüringischen Meister Ekkard, der des Lassus persönlicher Schüler war. Wir machen noch ganz besonders darauf aufmerksam, daß es hauptsächlich die vlämischen Provinzen waren, in denen jenes selbstständige Leben der Tonkunst begann, das später einen so mächtigen Einfluß auf Deutschland üben sollte. Eine solche Thatsache gewinnt noch an Bedeutung, wenn wir hinzufügen, daß auch in neuester Zeit die Tonkunst die Vlamänder wieder mit ihren deutschen Brüdern verknüpfen sollte.

Als es nämlich französischen Ränken in Verbindung mit der Julirevolution gelungen war, die vlämischen Provinzen von Holland zu trennen, hoffte die ländergierige und herrschsüchtige französische Nation, sowie sie auf ähnlichen Umwegen uns Deutschen Elsaß und Lothringen entrissen, bereits auch den ersten Schritt zur Einverleibung Belgiens in Frankreich gethan zu haben. Die wallonischen und französischen Elemente der belgischen Bevölkerung machten jedoch ihr durch Frankreich erlangtes Uebergewicht bald in einer Weise geltend, welche die Vlamänder, die die Majorität der Einwohner bilden, erst stutzen ließ und endlich zum Widerstande trieb. Sie war vielleicht die erste Ursache, daß die Vlamänder sich wieder ihrer deutschen Abstammung erinnerten, und in dem Bewußtsein ihrer geistigen Zusammengehörigkeit mit einer Nation von fast fünfzig Millionen die moralische Kraft zu jenem herzerhebenden Aufschwunge fanden, der bereits vor mehr als fünfzehn Jahren anhub und jetzt beinahe schon das große Ziel, den vlämischen Stamm für immer vor Französirung sicher zu stellen, erreicht hat. Und hierzu hat nun eben auch die Tonkunst abermals mit beigetragen.

Wir haben die nationale Bedeutung der Zusammenkünfte Tausender von Männern ein und derselben Abstammung an dem Frankfurter Schützenfeste und den deutschen Turnerfesten zu erkennen Gelegenheit gehabt. Aehnlich wirken seit einer Reihe von Jahren Musikfeste, bei welchen sich vlämische und deutsche Männer die Hände schütteln und die ihre politische Bedeutung schon durch ihren Namen „Deutsch-vlämische Männergesangfeste“ bekunden. Das erste in größerem Maßstabe gefeierte fand in Köln noch unter Felix Mendelsohn’s Direction statt; nach diesem glänzte vor allen Festen das zu Gent. Der ganze Ort, mit seinen ehrwürdigen, alterthümlichen Gebäuden und blühenden modernen Vorstädten, halte sich mit Fahnen und Blumen bedeckt, an seinen Fenstern standen schöne Frauen und Jungfrauen, und eine festlich durch die Straßen wogende Volksmenge harrte der Ankunft der deutschen Brüder. Der geschmückte Dampfzug, der die Ersehnten endlich brachte, wurde von den vlämischen Sängerbünden mit endlosem Jubel empfangen und unter dem Vorantritt rauschender Musikchöre wie im Triumph durch die Stadt nach der Sängerhalle geleitet, wo aus dem Herzen dringende Ansprachen, die die Blutsverwandschaft der Vlamänder und Deutschen betonten, mit dem Vortrage deutscher und vlämischer Lieder wechselten.

Den Sängerfesten folgten bald jene auch aus Deutschland zahlreich beschickten vlämischen Congresse, zu deren einem, wie wir Eingangs dieser Zeilen erzählten, der alte Arndt kurz vor seinem Tode eine so glänzende Einladung erhielt. Bei der großartigsten dieser Versammlungen, die in Antwerpen tagte, ward ein seitdem bei den Vlamen Nationallied gewordenes Gedicht vertheilt, dessen Namen, aus dem Vlämischen in’s Deutsche übersetzt, wörtlich lautet: „Das große deutsche Vaterland!“ – In Brüssel ward sogar unter dem Namen „der Pangermane“ ein Journal begründet, dessen Ausgabe ausschließlich in der Wahrung vlämisch-deutscher Interessen besteht. Die vlämische Literatur war schon früher erwacht und hatte, wie die Malerei in de Kayser, in Hendrick Conscience einen glänzenden Führer gefunden. Und als 1859 in Belgiens Hauptstadt eine Ausstellung von Cartons deutscher Maler stattfand, erschien in feierlichem und zahlreichem Zuge eine Künstler-Deputation aus Gent und legte bei den apokalyptischen Reitern des Altmeisters Cornelius einen Lorbeerkranz nieder, dessen golddurchwirktes Band die Inschrift trug: „Het gentsche Kunstgenootschap aen hunne duitsche Kunstbroeders.

Wichtiger aber als dies Alles ist die Stellung, die die vlämische Bevölkerung Belgiens seit dem Beginn der nationalen Bewegung auf politischem Gebiete eingenommen. Die Vlamen haben es durch ihre entschiedene Haltung dahin gebracht, daß ihrer Sprache eine weit gerechtere Berücksichtigung zu Theil ward, als dies früher unter vorwaltend französischen Einflüssen geschah. Die trauten Mutterlaute ertönen seitdem nicht nur allein im häuslichen und Familienkreise, wo sie niemals verdrängt wurden, sondern gelangen auch in den verschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens zu der ihnen gebührenden Geltung. Ja, es ist so weit gekommen, daß eine Regierung mit französischen Tendenzen in Belgien gegenwärtig unmöglich sein würde. Wir führen hierfür nur ein Beispiel an.

Als der französische General Espinasse bei einer vor drei Jahren in Lille gehaltenen Festrede die Worte aussprach: „Ich hoffe, daß Lille bald aufhören wird eine Grenzfestung zu sein,“ antworteten ihm die Belgier durch die Befestigung von Antwerpen, unbekümmert um den Chorus gereizter und drohender Stimmen, in den die französische Presse hierüber ausbrach. –

Man könnte mit Recht fragen, warum die Holländer, die uns in allen Beziehungen wenigstens ebenso nahe verwandt sind, wie die Vlamänder, sich bis zum heutigen Tage so viel zurückhaltender und fremder zu ihren deutschen Brüdern gestellt haben, als jene. Die Antwort ist leicht. Es droht den Holländern weder, wie den Vlamen, unmittelbare Gefahr durch einen ländergierigen, übermächtigen Nachbar, da Deutschlands Bestrebungen im Gegensatze

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_795.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)