Seite:Die Gartenlaube (1862) 782.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Das nächste Streben jedes einzelnen Vereins liegt selbstverständlich im Turnen; es bildet die Grundidee, der sich alle nebensächlichen Interessen unterordnen. Der Turnplatz ist der regelmäßige, wenn nicht tägliche Sammelplatz der Vereins-Mitglieder, die nach ihrem Alter oder ihrer bürgerlichen Stellung entweder eigentliche, d. h. stimmfähige Mitglieder oder Zöglinge, nach ihrer Theilnahme an den Turnübungen Turner oder Turnfreunde sind – die letzteren den sogenannten passiven Mitgliedern der Gesangvereine entsprechend. Durch den einfachen Zweck der Turngemeinschaft ist der Begriff einer geschlossenen Gesellschaft von selbst aufgegeben; der Eintritt steht jedem Manne, Jüngling und Knaben offen, der mit dem redlichen Streben erfüllt ist, zu seinem und des Vaterlandes Nutz und Frommen zur echten Männlichkeit sich auszubilden. So kommt es, daß wir auf dem freien Turnplätze alle sonst im bürgerlichen Alltagsleben sich schroff trennenden Stände und Berufsarten vertreten sehen – den Gelehrten neben dem Handwerker, den Kaufherrn neben seinen Markthelfern, den Lehrer neben dem Schüler, den Meister neben seinen Gehülfen und Lehrlingen. Gleichwohl ist die Vertretung der verschiedenen Berufsarten in den Turnvereinen durchschnittlich noch eine ungleichmäßige. Grade die Stände, auf die das Turnen vor allen andern segnend wirken kann, nämlich Gelehrte, Künstler, Beamte etc., sind ihm gegen alle Erwartung immer noch nicht in dem Maße zugethan, wie der Stand der Arbeitenden. Großen Antheil am Turnen hat, namentlich in den größeren Städten, wie Leipzig, Hamburg etc., der Kaufmannsstand genommen.

Die Mitgliederzahl ist natürlich in den einzelnen Vereinen, je nachdem sie in größeren oder kleineren Orten sind, sehr verschieden. Während nicht wenige über 1000, ja nahe an 2000 Mitglieder (wir erinnern an den Turnverein Leipzigs!) zählen, haben andere wiederum blos 20, 40. Im Allgemeinen ist eine Durchschnittszahl von 95 – 100 anzunehmen. In vielen, namentlich größeren Orten bestehen mehrere Vereine neben einander, die meisten in Berlin, nämlich 44, deren Vertreter zusammen den um die Förderung des Turnwesens so verdienten „Berliner Turnrath“ bilden.

Regelmäßigkeit und Stetigkeit sind die hauptsächlichsten Erfordernisse des Turnbetriebs. Die Turnerei will deshalb, wenn Witterung und Jahreszeit die Uebungen im Freien nicht gestatten, unter Dach und Fach gebracht sein. Am besten erfüllen diesen Zweck Turnhallen, bei deren Bau und innerer Einrichtung gleich auf ihre Bestimmung Rücksicht genommen worden ist, und es wird, wo nur immer die Verhältnisse es gestatten, auf die Erlangung solcher Gebäude hingestrebt. Hie und da, wo das Turnen als obligatorischer Unterrichtsgegenstand in die Schulen aufgenommen wurde, haben staatliche oder städtische Behörden die zum Erbauen von Turnhallen nöthigen Summen verwilligt und den Turnvereinen ihre Mitbenutzung gestattet; anderwärts haben auch die Turngemeinden selbst den Bau von Hallen, meist auf Actien, unternommen. Wir erwähnen die bedeutenden staatlichen Turnhallen in Hannover, Berlin, Darmstadt, München, Stuttgart, Dresden; ferner die städtischen und Vereinshallen in Altona, Amberg, Bremen, Breslau, Annaberg, Danzig, Elberfeld, Elbing, Ellwangen, Essen, Frankfurt a. M, Gießen, Glauchau, Gmünd, Görlitz, Hall, Hamburg, Hanau, Heidelberg, Jena, Köln, Königsberg, Magdeburg, Meerane, Meißen, Mühlheim, Offenbach, Ulm, Zittau, Zwickau etc. Die neuerbaute Turnhalle in Stettin kostet 24,000 Thlr., die in Barmen 11,000, in Gera 6,000, in Altenburg 5,000 Thlr., in Nürnberg (Vereinseigenthum) 20,000 fl., die in Leipzig 40,000 Thlr., in Berlin sollen drei Hallen und zwar zunächst eine für 72,000 Thlr. (incl. Bauplatz etc.) errichtet werden etc. Daß auch kleinere Vereine bei ernstlichem Streben in den Besitz von eigenen Hallen kommen können, haben wir in Nordhausen, Frankenberg, Limbach, Mylau, Lindenau und Schönefeld (zwei Dörfer bei Leipzig) gesehen. – Wo eine besondere Turnhalle fehlt, wird der Mangel, wenn auch sehr unvollkommen, durch irgend einen anderen Raum (Tanzsäle etc.) ersetzt, und es sind wohl nur sehr wenige Vereine, die den Winter über das Turnen gänzlich einstellen – sei es auch, wie dies oft vorkommt, daß sie ihre Zuflucht zu einer Remise, Scheune, zu einem Stall oder einer improvisirten Breterbude nehmen müssen.

Es ist Viel über die sogenannten „mit dem Turnen verbundenen Ideen“ gesprochen und geschrieben und – gestehen wir es offen – von den Turnvereinen selbst viel Mißbrauch mit ihnen getrieben worden. Unter diese Mißbräuche zählen wir z. B. das unzeitgemäße Princip der (gezwungenen) Brüderschaft, die Sucht vieler jüngeren im Turnen meist faulen Vereinsmitglieder, durch Abzeichen, Bänder und eigenthümliche Redensarten sich und der Turngemeinschaft eine Art von studentischem Corpsgeist aufzudrücken, der auf das größere Publicum den widerlichsten Eindruck machen muß und leider noch so Viele von der Theilnahme am Turnen abhält; doch finden sich diese Mißstände fast nur noch in jüngeren und kleineren Vereinen, in den meisten der bedeutenderen Vereine sind sogar die Auswüchse des specifischen „Urturnerthums“ streng verpönt. Freilich soll nun das Turnen nicht Selbstzweck bleiben, sondern durch den Einzelnen das Wohl der Gesammtheit fördern. Wo dieser Grundsatz sich auf wirklich praktische Bedürfnisse anwenden ließ, haben denn auch die Turnvereine eine segensreiche Wirksamkeit begonnen; wir erinnern vor Allem an die in den meisten und wohl in allen größeren Vereinen bestehenden Turner-Feuer-Wehren, welche in Augsburg, Leipzig, Pforzheim etc. zu wahren Musteranstalten ihrer Art geworden sind. Fraglicher ist die neuerdings oft angeregte Wehrhaftmachung der Turnvereine, die – weil sie eben unzeitgemäß und nicht aus einem wirklich gefühlten Bedürfniß hervorgegangen – bisher nicht über den Standpunkt eitler Spielerei hinweggekommen ist. Die tüchtigeren Turnvereine sind diesen Bestrebungen gänzlich fremd.

Was überhaupt der Sache des Turnens erst einen höheren ethischen und nationalen Werth verleiht, das ist der in allen Turnvereinen herrschende Geist der Zusammengehörigkeit und der Vaterlandsliebe. Von diesem Geiste, der vom Turnerthum ganz unzertrennlich, aber weit entfernt ist von der „politischen Agitation“, waren die Feste von Coburg und Berlin und alle anderen im weiten deutschen Vaterlande getragen; durch diesen Geist wurden die Turnfeste zu Volksfesten, die Turnsache zur Volkssache. In dem Bewußtsein des einen strebend auf dem einen vaterländischen Boden treten die deutschen Turner als einige deutsche Turnerschaft auf, als geschlossenes Ganzes. Wie im einzelnen Verein dem Bedürfniß gegenseitiger Anregung durch gemeinschaftliche Gesangübungen, Turnfahrten und Versammlungen zu ernsten und heiteren Zwecken nachgekommen wird, so leben die Vereine unter einander in regem Verkehr. So sind zu den Turnfesten, an denen stilles Wirken anregend und werbend aus den engen Grenzen der Uebungsplätze heraustritt, nicht nur fremde Vereine herzlich eingeladen, sondern es haben sich, wo kein engherziges Landesgesetz im Wege stand, ganze Vereinsgruppen zu sogenannten „Gau-Turnverbänden“ zusammengethan, deren hauptsächlichster Zweck eben in der Regelung der Festangelegenheiten, bezüglich der Bestimmung eines jährlich wiederkehrenden Gaufestes, sodann in der Hinwirkung auf einen einheitlichen Turnbetrieb etc. besteht. Der Verein, welcher für das kommende Jahr das Fest übernimmt, erhält damit zugleich die Vorortschaft. So haben wir jetzt einen schwäbischen, einen bairischen, einen oberrheinischen, mittelrheinischen, niederrheinisch-westphälischen, einen nord-, süd- und ostthüringischen, einen Hennebergischen, niedersächsischen, einen Niederweser-Turnerbund und sieben schlesische Turngaue etc.

Wenn nun auch neuerdings auf den Turntagen zu Coburg und Berlin von der Gründung eines allgemeinen deutschen Turnerbundes (woraus man von gewisser Seite den Turnvereinen einen Vorwurf hat machen wollen) abgestanden wurde, so ist dies keineswegs ein Beweis für Mangel an einigem Geiste und einigem Handeln. Denn so schön der Gedanke an solchen Bund, dessen eigentliche Bedeutung schließlich doch nur in äußerlichem Satzungs- und Formenwesen bestehen würde, bei oberflächlicher Betrachtung erscheint, so wenig entspricht er dem wirklichen Bedürfniß. Diesem zu genügen, ernannten die zu Berlin versammelten Turner einen ständigen Ausschuß, dessen Mitglieder, 15 an der Zahl, aus den verschiedenen Theilen des Vaterlandes gewählt wurden und durch welchen die laufenden Angelegenheiten der deutschen Turnerschaft endgültig erledigt werden. Der Ausschuß hielt seine erste Berathung in Gotha am 27. und 28. December v. J., deren hauptsächliche Ergebnisse wir hier mittheilen wollen, da sie zugleich einen Einblick in die turnerischen Tagesfragen gewähren.

Das nächste allgemeine deutsche Turnfest wird im Sommer 1863 in Leipzig, das übernächste im Sommer 1865 in Nürnberg abgehalten werden. (Das Leipziger Comité hat die Tage des Festes auf 2. – 5. August 1863 festgesetzt und seine vorläufigen Bestimmungen nach der Größe der zu erwartenden Festgenossenschaft – etwa 12–14000 Turner – getroffen.)

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_782.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)