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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Bekannten oder Verwandten auszusehen. Unter diesen Letzteren bemerkte ich einen etwas auffallend gekleideten Mann, der hastig auf einen der Schiffsleute zulief mit der Frage: „Haben Sie die Zettel?“ Der Gefragte winkte bejahend und übergab ein längliches Paguet, wofür er ein Trinkgeld empfing.

Der Mann in ungewöhnlicher Tracht und „Zettel“? Nichts Anderes als ein Theaterdirector und Theaterzettel, die anderswo gedruckt sind, weil das Städtchen zu klein ist, um eine Druckerei zu unterhalten! rief mir mein spiritus familiaris zu. Halb willenlos griff ich in demselben Augenblicke nach meinem Mantelsack und eilte, als das Schiff sich eben wieder in Bewegung setzen wollte, über die Landungsbrücke dem Unbekannten nach. Ich hatte mich nicht geirrt. Hocherfreut reichte er mir die Hand und gab sich mir als Principal einer wandernden Truppe zu erkennen, die in diesem Städtchen seit einiger Zeit Vorstellungen gab.

„Sie kommen wie ein Gesandter des Himmels!“ rief er voll Emphase aus. „Ich soll an diesem Abend die Räuber geben und habe keinen Carl. Im Nothfall müßte ich ihn spielen, denn das Publicum will sich nun einmal nicht mit kleinen Stücke abfertigen lassen. Sie werden den Carl spielen, und ich kann an der Casse bleiben.“

Ohne meine Antwort abzuwarten, führte mich der Impresario nach dem Theaterlocal, d. h. in einen Gasthofssaal, in welchem eine Bühne aufgeschlagen war, und stellte mich dem bereits versammelten, aus sieben Männern und fünf Damen bestehenden Personal vor.

„Sieben Männer und die Räuber!“

„Warum nicht? Es giebt sinnreiche Auskunftsmittel, um fehlende Darsteller zu ersetzen. Man läßt mehrere Rollen von einer Person spielen. Ich kannte einen alten Komödianten, der sein Leben lang keine Ortschaft von mehr als 3000 Einwohnern gesehen hatte und nicht froher war, als wenn ihm drei Rollen in einem Stücke zugetheilt waren. Was Andern nur als ein widerwärtiger Nothbehelf erschien, war ihm Sache des Ehrgeizes, denn er suchte ein künstlerisches Verdienst darin, durch den Wechsel des Anzuges und der Schminke seine Person unkenntlich zu machen.

Er spielte in „Kabale und Liebe“ sämmtliche Kammerdiener des Präsidenten und der Lady Milford und glaubte dadurch, daß er in den Zimmern des Präsidenten Schuhschnallen, bei der Lady aber keine trug, alle Zuschauer über die Identität besagter Kammerdiener zu täuschen. Zu einer Posse hatte derselbe Mime einen Schreiber und einen Postbeamten zu spielen. Beide kamen rasch aufeinander; zum Umkleiden war also nicht Zeit. Was that unser Roscius? Er nahm als Schreiber den Hut unter den rechten, als Postbeamter aber unter den linken Arm und blickte mit triumphirender Miene in’s Publicum, als wollte er sagen: „Es erkennt mich Niemand!“ Und das Alles vollführte dieser erfinderische Genius mit einem treuen Pflichteifer, einem naiven Ernste, der einer höheren Aufgabe würdig gewesen wäre. Er hatte niemals den Gegensatz größerer Theater erfahren und verstand daher unser Lachen nicht, wenn er sich vor uns in der ganzen Glorie seines künstlerischen Bewußtseins spreizte. Unvergeßlich bleibt er mir in der Rolle des Geistes im Hamlet. Schon einige Tage vor der Aufführung hatten wir ihn nachdenkend umhergehen sehen, so daß wir auf große Dinge gefaßt sein durften. Und richtig – so war es! Nach langer Erwägung, wie sich die Schauer der Geisterwelt am passendsten versinnlichen ließen, beging unser College, von den Eingebungen einer unerschöpflichen Phantasie getrieben, folgenden Meisterstreich. Er band an die Spitzen seiner gelben Sandalen ein Paar gelblackirte, offene Blechdosen und füllte diese mit Räucherkraut, das er kurz vor dem Auftreten anzündete. Und wirklich war es grausig anzusehen, wie vor den Füßen des weitausschreitenden Phantoms Rauchwolken aus dem Boden zu steigen schienen.

Kaum aber begann der Geist „das Innere seines Kerkers zu enthüllen“ und Dinge zu erzählen, „deren kleinstes Wort die Seele zermalmte“, als er an den Fußzehen eine glühende Hitze verspürte und mitten in seiner Rede zur großen Belustigung aller die Sandalen ausziehen mußte, um sich die Füße nicht zu verbrennen. – Ich könnte noch einen ganzen Glorienschein solcher Geschichten um das Künstlerhaupt meines nun längst verschollenen Collegen weben; ich könnte Euch noch mehr von ihm erzählen, als daß er in einem großen Ritterschauspiele in der vierten Scene in gelben Ritterstiefeln erschlagen wurde und in der fünften in schwarzen Stulpen seinen eigenen Tod meldete – aber ich mochte doch vor Allem noch meines alten Freundes und Collegen Zugvogel gedenken, den ich in jenem Städtchen zum ersten Male traf.

Ich trat in die Garderobe. An einem langen Tische saßen vor ihren Toiletten, resp. Spiegelscherben, die sieben Männer, welche Schiller’s dramatisches Erstlingswerk darzustellen bestimmt waren. Franz Moor zupfte schwarze Wolle zu einem Knebelbart zurecht und zog sodann einen schwarzen Tuschstrich über die untere Hälfte der Augenringe, um sich jenen wüsten, unheimlichen Blick zu verleihen, der dem Bösewicht eigen ist. Neben ihm saß Zugvogel, dessen zaghaftes, wortkarges Benehmen mitten in diesem Kreise redelustiger Genossen meine Aufmerksamkeit erregte. Er hatte erst vor Kurzem, wie ich nach der Vorstellung erfuhr, mit seinen abnehmenden Kräften ein Engagement bei dieser Truppe gefunden und mußte, da sein Gedächtniß ihn nicht mehr zum Auswendiglernen befähigte, sich zu allen möglichen theatralischen Hülfsleistungen bequemen. Auf dem linken Ohr hörte er schlecht – spottlustige, jüngere Mitglieder sagten, der Souffleur habe es ihm taub geschrieen – und so bildete er stets, das rechte Ohr zum Souffleurkasten gewandt, mit dem Publicum einen rechten Winkel. Wenn ein verliebter Geck Schläge bekommen sollte, so war Zugvogel sicher, ihn zugetheilt zu erhalten; er spielte, was kein Anderer mochte: die kläglichen, zärtlichen Väter. Für diesmal hatte er den alten Moor und nebenbei einen Räuber und den Daniel zu spielen. Er bedurfte nicht der weißen Perrücke, um seinem Haare die Farbe des Alters zu geben, und seine zitternde Greisenstimme war keine Verstellung. Da zu seinem Ressort auch die Beleuchtung gehörte, so begab er sich früher als alle Uebrigen auf die Bühne, um die Lampen anzuzünden und so lange auf- und niederzuschrauben, bis das richtige Maß der Helle erzielt war. Bald darauf verließ auch ich die Garderobe, um mir die Räumlichkeiten unseres Bretergerüstes etwas näher anzusehen. Zugvogel stand an eine Coulisse gelehnt, seine Züge verriethen eine feierliche, sonntägliche Stimmung – er mochte das Elend seiner Existenz vergessen und sich zurückträumen in eine längst verflossene Blüthenzeit. Die Ausführung nahm ihren gewöhnlichen Verlauf. Nur im vierten Act trat eine Störung ein, die ich versucht wäre, komisch zu nennen, wenn sie mich nicht schmerzlicher Weise an Zugvogel’s Altersschwäche erinnert hätte. Es war, da das Räuberpersonal gar zu winzig ausfiel, auf der Probe die Verabredung getroffen worden, das bekannte Räuberlied zu Anfang des vierten Actes wegzulassen. Zugvogel, der den alten Moor spielte und der Handlung gemäß im Thurm saß, war seit Jahren gewohnt, da er in seinem Kerker den Zuschauern ohnehin unsichtbar war, den Chor durch Mitsingen zu verstärken. Der Vorhang rollte in die Höhe – und unser Kunstinvalide, dessen Gedächtniß die getroffene Uebereinkunft entfallen war, intonirte mit seiner zitternden Stimme das Räuberlied. Nun denke man sich den Jubel des Publicums, das den alten, halbverhungerten Grafen von Moor in seinem Kerkerthurm singen hörte: „Ein freies Leben führen wir!“ Es war komisch genug, und ich mußte in das allgemeine Gelächter einstimmen, als der alte Moor von einem „freien Leben voller Wonne“ sang, aber wie tief ergriff es mich, als ich von der Coulisse aus den Ausdruck der tiefsten Verlegenheit auf Zugvogel’s Gesicht las und den hülflosen Mann die zitternde Hand erheben sah, als wollte er dem schallenden Gelächter, das aus Coulisse und Zuschauerraum auf ihn eindrang, Halt gebieten!

Ich begleitete den bedauernswerthen Veteranen an demselben Abend nach Hause, um mich von ihm über die näheren Verhältnisse der Theaterentreprise unterrichten zu lassen, und benutzte diese Gelegenheit, seine niedergeschlagene, trostlose Stimmung durch den Hinweis auf eine bessere Zukunft zu verscheuchen. Aber Zugvogel kannte seine Lage zu wohl, um sich durch solchen Trost täuschen zu lassen.

„Sie wissen nicht,“ erwiderte er mir, „wie viel Bitteres und Herbes ich erfahren habe seit jenem Tage, da ich zum ersten Male die Breter betrat bis zu dieser Stunde, da ich, ein Bild des tiefsten Verfalls, Ihnen gegenübersitze. Ich war nicht ohne Begabung und durfte mich der Hoffnung hingeben, dereinst unter den wahren Jüngern der Kunst genannt zu werden, und doch mußte ich elend untergehen, weil ich nirgends ein Verständniß meiner reinen Intentionen fand. Bei kleineren Bühnen zu selbstbewußt, um mich zum Coulissenreißer zu entwürdigen, und in besseren Verhältnissen zu stolz, den gehorsamen Diener hochnäsiger Directoren und adliger Intendanten zu spielen, sah ich mich zu einem Wandern ohne Ende

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 751. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_751.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)