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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

niederdrückenden Gewichte dieses Widerspruches zu erliegen und ist in wenigen Jahren sehr alt geworden, aber immer noch der größte Redner des Unterhauses, sobald er seiner mühsam unterdrückten Leidenschaft freien Lauf lassen kann und im aufregenden Sturme der Debatte vergißt, daß er mit Leib und Seele an eine altersschwache, zukunftslose und zerfallende Partei geschmiedet ist. Um zu wissen, was in dem Inneren dieses Mannes vorgehen muß, brauchen wir nur sein Haus, das hier hinter den Bäumen hervorblickt, zu betrachten. Ein großes, kahles, abstoßendes Eckhaus, ein Bild der Ungastlichkeit, das fast immer hinter verschlossenen Gardinen und Fensterläden liegt. Es fröstelt einen, wenn man dieses nackte, gegen die Außenwelt abgeschlossene, finstere Gebäude nur anblickt. Der Mann, der in diesem Hause wohnt, muß sehr einsam in der Welt dastehen. Der Weg, den der Verfasser von „Vivian Gray“ zu gehen hatte, um zu diesem Hause zu gelangen, führt über manche gescheiterte Hoffnung. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte er eine wohlhabende Wittwe heirathen, seinen Jugendneigungen entsagen und sich zum Werkzeuge einer Partei hergeben, die ihn als ein nothwendiges Uebel betrachtet und in vollständige gesellschaftliche Vereinsamung getrieben hat. Er bleibt stehen und blickt mit starrem Auge zu Boden. Woran mag er denken?

So ziemlich in der Mitte des Parks auf einer leichten Anhöhe steht eine größere Anzahl von Bäumen beisammen. Man nennt diesen Platz die „Wüste“, und diejenigen Individuen, welche hier ihre Sonntagsvorstellungen geben, heißen „Prediger der Wüste“. Straßenprediger findet man zwar überall in London, aber sie werden wenig beachtet und müssen eine sehr gute Lunge besitzen, wenn sie durch das Singen der einleitenden Hymne einen Haufen um sich versammeln wollen, der noch dazu sich gewöhnlich wieder verläuft, sobald vom Gesang zur Predigt übergegangen wird; sie sind meistens die bezahlten Sendlinge frommer Vereine und nicht auf den unmittelbaren Erfolg ihrer Leistungen angewiesen. In den Parks dagegen herrscht das Princip der freien Concurrenz. Wenn es einem Prediger nicht gelingt, seine Zuhörer zu fesseln, so muß er sie zu seinem Rivalen unter dem nächsten Baum wandern sehen; er darf also vor Allem nicht langweilig sein und kann sich nur auf seine eigenen Kräfte verlassen. Im Hyde-Park predigten heute etwa 15 Prediger zu gleicher Zeit und zum Theil in offener Opposition zu einander. Der Prediger, der gewöhnlich einen handfesten und lungenkräftigen Assistenten zur Seite stehen hat, stellt sich auf eine Bank oder schwingt sich auch auf die untersten Aeste eines Baumes, liest zwei Strophen einer Hymne vor und beginnt mit seinem Gehülfen zu singen, immer die Worte des Gesanges in den Pausen vorlesend. Gelingt es ihm, ein hinreichend zahlreiches Publicum auf diese Weise herbei zu singen, so geht er nach Schluß des Gesanges zum Gebet und dann zur Predigt über. Das Publicum hat allen Vortheil von dem Princip der freien Concurrenz, nach welchem hier seine religiösen Bedürfnisse befriedigt werden. Der Geistliche in seiner Kirche weiß, daß er seine Heerde für eine Stunde sicher hat, denn es würde ganz gegen alle Respectabilität sein, die Kirche vor dem Ende der Predigt zu verlassen. Aber ein „Prediger der Wüste“ weiß, daß er seine Zuhörer interessiren muß, um sie beisammen oder ruhig zu halten. Nicht nur muß er im Stande sein, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, sondern auch schlagfertig etwaigen Einwürfen begegnen, die ihm aus dem Haufen gemacht werden. Wenige der wohlbestallten Londoner Geistlichen würden in der „Wüste“ zu predigen vermögen. Diese Prediger der Wüste sind roh und ungebildet, zum großen Theil wahrscheinlich Heuchler und Aufschneider, aber sie besitzen einen gewissen Grad von Beredsamkeit und verstehen es, durch pikante Witze oder eindringliche Verzückungen, durch starkwirkende Versinnlichung der Höllenstrafen oder durch schmackhafte Schilderung der himmlischen Seligkeit ihr Publicum zu erregen und zu fesseln. Man findet nur sehr selten wirkliche Geistliche unter ihnen, gewöhnlich sind es junge Leute, bei denen die Gnade eben zum Durchbruche gekommen ist und die Wiedergeburt vortrefflich anzuschlagen scheint, denn sie werden dick und fett dabei und bilden einen wohlthuenden Gegensatz zu ihren atheistischen Rivalen, deren halbverhungerte Physiognomien zur Genüge anzeigen, daß der Atheismus ein schlechtes Geschäft in England ist.

Zunächst blieben wir unter einem Baume stehen, auf dem ein wohlbekannter Wüstenredner seine Tribüne aufgeschlagen hatte. Mit stürmischer Beredsamkeit protestirt er allsonntäglich von demselben Baume herab gegen alle politischen und socialen Gesetze, welche ihn umgeben, und findet dann schließlich den Grund des Uebels in dem Bestehen der Religion, die er mit großer Heftigkeit zu vernichten droht. Seiner heutigen Predigt oder Vorlesung legte er die neulich erfolgte Verurtheilung eines neunjährigen Kindes wegen Wilddieberei als Text zu Grunde und verlas den betreffenden Bericht aus einer Penny-Zeitung. Der Abwechselung halber begaben wir uns unter einen benachbarten Baum, um dem „jungen Evangelisten aus Rochdale“ für einige Minuten zuzuhören; kehrten jedoch bald wieder zurück, da wir befürchteten, daß die allzu große Süßigkeit seiner Worte uns Magensäure verursachen würde. Bei unserer Rückkehr fanden wir den Atheisten in heftiger Disputation mit einem Rivalen begriffen, der das Aussehen eines dissentirenden Geistlichen hatte. Die Streitfrage war: ob sich, die Autorität der Bibel angenommen, irgend eine Stelle zur Rechtfertigung der Todesstrafe finden lasse. Um beide Kämpfer schaarte sich eine Partei, die durch Zurufe, Pfeifen und Händeklatschen ihren eigenen Kämpen zu ermuntern und den Gegner zu entmuthigen suchte. Die Disputanten erhitzten sich und schienen eben im Begriff zu sein, sich in die Haare zu fahren, um die Bedeutung des Textes: „Wer eines Menschen Blut vergißt etc.“ durch physische Beweisgründe zum Abschlüsse zu bringen. Für den Freund gesetzlicher Ordnung und positiver Religion mußte es erfreulich sein zu bemerken, daß bei dem bevorstehenden Faustkampfe der Vertheidiger der bestehenden Gesetze die größten Vortheile haben würde, denn er war nicht nur viel größer und vierschrötiger als der Anarchist, sondern schwang auch eine dicke Bibel über seinem Haupte, während sein Gegner nur mit einem dünnen Zeitungsblatte bewaffnet war. Als die Dinge zu diesem entscheidenden Punkte gediehen waren, begannen zwei kolossale Gardisten, die der Auslegung des Textes mit ziemlich verblüfften Mienen zugehört hatten, plötzlich ein sehr einsichtiges Interesse an den Vorgängen zu bethätigen, und die Jungen, welche um den Zuhörerkreis herumsprangen und jubelten, waren natürlich in Ekstase. Beide Disputanten standen auf einer der kreisförmigen Bänke, die unter einigen Bäumen angebracht sind, und die Discussion war schon sehr persönlich geworden, als zu unserer großen Enttäuschung der Vertheidiger des Gesetzes plötzlich verschwand, wahrscheinlich niedergerissen von den Kämpen der Anarchie. Es ließ sich in dem Tumulte schwer erkennen, was eigentlich vorging, aber nach einem großen Aufwand von Geschrei und Durcheinanderrennen fanden sich die beiden Gegner plötzlich unter zwei verschiedenen Bäumen, etwa 200 Schritt von einander getrennt, und nahmen ihr Geschäft so ruhig wieder auf, als ob nichts vorgefallen wäre, jener das Vorspiel zu einer Hymne singend und dieser aus seiner Zeitung gegen die Tyrannei der Gesetze und die Verderblichkeit der Religion donnernd.

Diese Kämpfe finden nicht immer unter demselben Baume statt, sondern gewöhnlich befinden sich die Widersacher unter oder auf zwei gegenüberstehenden Bäumen. Auf einen Atheisten kommen jedoch mindestens ein halbes Dutzend Orthodoxe, und es ist vielleicht ein neuer, aber gewiß schlagender Beweis für den Werth der Orthodoxie, daß diejenigen, welche für dieselbe im Hyde-Park predigen, fetter sind, als diejenigen, welche dagegen predigen. Verschiedenen Neubekehrten, welche nun Andere auffordern, in ihre Fußstapfen zu treten, scheint die Gnade wunderbar zu bekommen.

Dies ist um so auffallender, da die Polizei nicht gestattet, mit dem Hut herumzugehen, sondern den erwähnten Atheisten, der sich zuweilen von der Noth zu diesem Mittel verleiten zu lassen scheint, schon mehrmals wegen Bettelns verhaftet und vor den Bezirksmagistrat geführt hat. Freilich kann sie nicht verhindern, wenn der „junge Evangelist von Rochdale“ seine Adresse angiebt und erklärt, daß er bereit sei, mit denen, welche seinen geistlichen Rath suchen sollten, zu einer bestimmten Tageszeit zu beten. Dieser populärste Prediger der Wüste ist ein kurzer, rothhaariger Junge von etwa 18 Jahren, der gar nichts Besonderes an sich zu haben scheint, aber zwei Stunden lang beten, predigen und singen kann, ohne eine Pause zu machen oder das geringste Anzeichen von Ermüdung zu verrathen. Die Predigten sind ziemlich alle über einen Leisten, und der Prediger spielt unter jedem Baume die Rolle eines lebendigen Exempels der zum Durchbruch gekommenen Gnade. Seine Kenntniß von den Wirkungen der christlichen Wiedergeburt ist viel größer als von den Erfordernissen der englischen Grammatik, die gewöhnlich abscheulich maltraitirt wird. Die Poesie der Hymnen, die meistens nach der Melodie eines populären Gassenhauers gesungen werden, ist im höchsten Grade abgeschmackt. Ein Refrain:

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_538.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)