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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Das thätigste Organ in unserm ganzen Körper scheint das Herz zu sein, es schlägt Nacht und Tag gleichmäßig fort, bis der Tod ihm Stillstand gebietet. Bedarf es keiner Ruhe? Ja! aber es lebt in der pedantischsten Regelmäßigkeit. Etwa 70 Mal in der Minute zieht es sich zusammen, und genau ebenso oft ruht es aus. Nach jeder Anstrengung hat es seinen Schlaf, der, wenn auch noch so kurz (etwa 3/4 Secunde), doch vollkommen genügt, um den erlittenen Verlust zu ersetzen. Das Herz braucht und erhält keinen anderen Schlaf. Der ganze den Körper durchziehende Speisecanal ist ebenfalls während des ganzen Lebens in Thätigkeit, aber keineswegs in seiner ganzen Länge gleichzeitig und ununterbrochen, vielmehr wechselt fortwährend in den einzelnen Theilen Thätigkeit und Ruhe mit einander ab. Aehnliches zeigt sich bei dem so verwickelten Mechanismus des Athmens, der auch während des ganzen Lebens in ununterbrochenem Spiel des Wechsels der Thätigkeit in seinen einzelnen Theilen fortdauert. – Gehen wir zu dem System unserer Muskeln, unserer willkürlich bewegten Glieder über, so finden wir auch hier keinen Theil, der ununterbrochen in Thätigkeit wäre, dem nicht auch im wachen Leben Pausen der Ruhe, der Erholung gegönnt wären. Und dasselbe gilt für unsere Sinnesorgane, dasselbe für unser Nervensystem; kurz alle Theile erhalten schon im Zustande des Wachens durch die immer wechselnden, immer sich an andere und wieder andere Organe vertheilenden Thätigkeiten auch Pausen für die nöthige Ruhe zur Wiederherstellung.

So zeigt sich denn scheinbar für den ganzen Körper, der keine ungewöhnliche und übermäßige Anstrengung macht, durchaus kein Grund für eine noch besonders in größeren Perioden eintretende Ruhe, und wir könnten daraus den Schluß ziehen, daß das gewöhnliche Schlafen überhaupt keine Nothwendigkeit, sondern nur ein Luxus sei, den wir unserer Trägheit zu Gefallen treiben. Aber hat sich doch ein Mann mit dem eisernen Willen, wie Friedrich der Große, den Schlaf nicht abgewöhnen, ja nicht einmal für längere Zeit über ein gewisses Maß hinaus abkürzen können. Es muß doch wohl ein Unvermeidliches sein, und wir stehen wieder an der Frage: „was schläft denn eigentlich?“ Wenn der Schlaf wirklich eine Nothwendigkeit ist, so müssen wir einen Theil unseres Körpers auffinden können, der während des wachen Zustandes ununterbrochen in Thätigkeit ist und daher nach längerer Zeit auch gebieterisch seinen Antheil an der nöthigen Ruhe fordert, und es wird eine Probe auf die Richtigkeit unserer Untersuchung sein, wenn wir aus dem alleinigen Schlafen dieses Theiles alle Erscheinungen des Schlafes vollständig erklären können.

Es ist nun nicht schwer, beim Menschen eine solche Thätigkeit, die ununterbrochen und ausschließlich das wache Leben begleitet, aufzufinden. Wie auch das Spiel unserer Vorstellungen, unserer Erkenntnisse, Gefühle und Bestrebungen wechseln möge, so giebt’s doch ein Etwas, welches im wachen Zustande mit allem sich verknüpft und niemals ganz ausfällt, nämlich das Bewußtsein, das wir im einfachsten Falle Selbstbewußtsein nennen. – Hier hätten wir nun ein lange Zeit ununterbrochen Thätiges, das daher auch eine längere Zeit ununterbrochener Ruhe gebieterisch fordern wird. Von einem Schlaf des geistigen Lebens an sich können wir uns durchaus keine Vorstellung machen, sondern nur von dem Schlaf, dem Ausruhen eines organischen Gebildes, wir können also hier die Untersuchung gar nicht abweisen, welches das Organ des Bewußtseins sei. Die Nervenphysiologie hat uns darüber belehrt, daß jede einzelne Nervenfaser, jede einzelne Gruppe von Nervenfasern auch ganz bestimmten Thätigkeiten dient, und daß diese letzteren so wenig von einer andern Nervenfaser übernommen werden können, als die erstere Thätigkeiten dienen kann, für die sie nicht gemacht ist. Wir müssen also, wie für alle einzelnen Erscheinungen des Geistesleben, so auch für das Bewußtsein nach einem organischen, einem materiellen Träger fragen, dessen Thätigkeit die Erscheinung, die wir Bewußtsein nennen, begleitet. – Aber welcher Theil ist das, und wie verhält sich die Sache bei den Thieren, bei denen wir von Bewußtsein nicht sprechen können, da wir nichts davon wissen?

Dies führt uns nun zunächst in ein scheinbar sehr fern liegendes Gebiet, in die Untersuchung des Individualitätsbegriffes in der Natur. Bei Pflanzen und Thieren haben wir als Grundlage der ganzen Bildung eine scheinbar sehr einfache organische Gestalt, die Zelle, die auf den untersten Stufen der Entwicklung als ganze selbstständige Pflanze, als ganzes Thier auftritt. Hier haben wir den Begriff des Individuums, der organischen Unteilbarkeit rein ausgesprochen, die zerschnittene Zelle ist nicht mehr Zelle; die Pflanze, das Thier, als welche sie existirte, ist zerstört, vernichtet. Auch bei den höheren Wirbelthieren und beim Menschen finden wir eine solche fest ausgesprochene Individualisirung. Wir können diese Körper nicht theilen, so daß beide Theile als lebendige fortexistirten; wir können Manches vom Thiere abschneiden, aber das Abgeschnittene ist todt, wenn auch das Uebrige lebendig bleibt, und eine größere Theilung, die bestimmte Organe, Gehirn und Rückenmark, trifft, vernichtet das ganze Leben. Zwischen diesen beiden Endpunkten liegen aber eine ganze Reihe von Mittelstufen, bei denen der Individualitätsbegriff, theoretisch und praktisch, sehr schwer festzuhalten ist. – Zunächst die Pflanze betreffend, so sind alle nicht aus einer Zelle bestehenden Pflanzen aus mehreren völlig individualisirten Zellen aufgebaut, und die meisten Zellen, vielleicht alle zu einer gewissen Zeit, behalten die Fähigkeit, aus dem Verbande mit der ganzen Pflanze unter günstigen Bedingungen herausgelöst, ein selbstständiges Leben fortzuführen. Die meisten Pflanzen kann man in zwei oder mehrere Stücke zerschneiden, ohne daß dadurch allein das lebendige Fortexistiren der einzelnen Stücke gefährdet wäre. So haben wir in gewissem Sinne bei den Pflanzen überall kein anderes eigentliches Individuum als die einzelne Zelle; die ganzen Pflanzen sind gewissermaßen nur ein Volk von Einzelwesen, die zwar unter einer bestimmten äußern Gesammtform sich für eine Zeitlang vereinigt haben, aber ohne wesentlich von einander abhängig geworden zu sein – das Ideal einer Demokratie.

Ganz anders verhält sich die Sache bei den Thieren. Auch diese bauen sich aus einzelnen Zellen oder Zellenäquivalenten auf, aber die einzelne Zelle verliert, indem sie als Formbestandtheil in einen Thierkörper eingeht, ihre Selbstständigkeit, bis auf einige Spuren bei den allerniedrigsten Thieren, ganz und gar. Sie ist nur lebendig, insoweit sie dem lebendigen Körper als Theil angehört; sie entsteht, entwickelt sich und wirkt nur in Verbindung mit, in Abhängigkeit von anderen Zellen und Zellengruppen. Diese Verbindung der Zellen unter einander wird im Thierkörper durch ein besonderes, dem Thiere ausschließlich eigenes System von Elementartheilen, den Nervenröhren und ihren Zellen, vermittelt. Aus dieser Verknüpfung entwickelt sich ein Einfluß einer Zelle auf die andere, und schließlich geht die ganze demokratische Unabhängigkeit und Nebenordnung der selbstständigen Zellen, wie wir sie in der Pflanze sahen, in die Abhängigkeit größerer oder kleinerer Zellenmassen von einem Mittelpunkt, einem Nervenknoten, über, der ein bestimmtes Gebiet des Zellenbaues beherrscht und in seinem lebendigen Sein von sich abhängig macht. So erst treten aus dem Aggregat selbstständiger Zellen wieder bestimmt individualisirte Zellengruppen hervor, bei denen die Zerstörung des Centraltheiles, des diese Zellen beherrschenden Nervenknotens, auch das Leben der zugehörigen und abhängigen Theile aufhebt. Bei den niedern Thieren finden wir nun noch eine größere Anzahl gleich großer Nervenknoten und daher gleichwertiger Mittelpunkte; deshalb gelingt es auch häufig, diese Thiere in einzelne Stücke zu zerlegen, deren jedes für sich lebendig bleibt, ja sich zum vollen Thiere wieder ergänzt, sobald nur der zu diesem Theil gehörige Nervenknoten unverletzt blieb. Wir haben hier nicht mehr eine demokratische, sondern eine aristokratische Verfassung, in der eine größere Anzahl Patricier mit den von ihnen abhängigen Clienten zusammengenommen das Ganze ausmachen, aber so, daß sie unter einander nur in sehr lockerem Verbände stehen und leicht jeder einzelne mit seinem Anhang aus dem ganzen Staat austreten kann. Aber darüber hinaus kommen wir noch zu einer weiteren und höheren Gestaltung. Allmählich treten die einzelnen Nervenknoten näher und näher zusammen. Ein einziger überwiegt mehr und mehr an Einfluß, und so ordnet sich endlich im Wirbelthier, auf der höchsten Entwickelungsstufe, das ganze Aggregat einzelner wirksamer und thätiger Theile in der vollendetsten Einheitsform, der Monarchie, einem einzigen Mittelpunkt des ganzen Nervensystems unter, von dem Alles abhängt, mit dem und durch den das Ganze erst sein Leben und seine strenge Individualisirung, seine Einheit hat.

Wir dürfen nicht verschweigen, daß das anatomische Messer diesen wichtigsten Theil des ganzen thierischen Nervensystems noch nicht bloßgelegt und isolirt hat, aber daß es einen solchen Herrschersitz in dem Ganzen giebt und geben muß, beweist uns die obige Betrachtung unwiderleglich.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_376.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)