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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)


„Was hast Du vor?“ fragte der Director.

„Gewähre nur die Bitte.“

Er sah sie fragend, mißtrauisch, dann ahnend an.

„Es sei,“ sagte der ehrgeizige Mann.

Er fragte nicht noch einmal, was sie vorhabe.

„Und nun noch eine Bitte, Adalbert,“ konnte sie in ihrer klaren Ruhe fortfahren.

„Sprich sie aus.“

„Tröste Emilie, das arme Kind. Hat der Präsident Dir von ihr gesprochen?“

„Ja.“

„Ich ahne, was er Dir kann gesagt haben. Es sind Worte des Stolzes, des Hochmuths gewesen. Um so mehr Worte des Trostes wirst Du für sie haben.“

Die beiden Gatten trennten sich.


5.

Es war Abend. Die Directorin Heilsberg saß in ihrem Schlafzimmer. Dasselbe theilten mit ihr zugleich ihre beiden jüngeren Töchter, die fünfjährige muntere Hanna und die an Körper und Geist schwache Clementine. Der siebenjährige Bruno schlief in einem Alkoven nebenan. Die sorgsame Mutter hatte es sich nie nehmen lassen, auch in der Nacht zum Schutze der kleineren, der Hülfe bedürftigen Kinder in der Nähe zu sein. Die kranke Clementine war schon in ihrem Bette und schlief. Auch der Knabe war in seinem Bettchen. Aber er schlief noch nicht, und der Vorhang, durch den der Alkoven von der Stube getrennt wurde, war noch nicht niedergelassen. Die kleine Hanna war noch auf, aber sie schlief. Sie saß an einem Tische, der in der Mitte der Stube stand. Auf dem Tische lagen ihre runden Aermchen. Auf den Aermchen ruhte der müde blonde Lockenkopf. Sie war die Lebhaftere und wollte immer die letzte sein, die zu Bette gebracht werde. So auch heute. Aber heute war sie darüber eingeschlafen. Neben ihr saß wachend die Mutter. Die Directorin hatte den ganzen Abend geschrieben.

Am späten Nachmittage, nachdem er lange mit seiner Tochter Emilie gesprochen, hatte der Director Heilsberg das Haus verlassen. Er war seitdem noch nicht zurückgekehrt. Gleich nachdem er ausgegangen, hatte die Directorin sich in ihr Schlafzimmer begeben. Sie war bis dahin unten im Wohnzimmer gewesen. Als die Kinder hineingekommen waren, hatten sie die Mutter mit blassem, eingefallenem Gesichte, mit Thränen in den Augen, mit gerungenen Händen, auf und ab schreiten sehen; oder sie hatte auch wohl so am Fenster gestanden und zum Himmel hinaufgestarrt. Die Kinder hatten sich fragend, weinend zu ihr stürzen wollen; aber sie hatte sie mit so weicher, schluchzender Stimme gebeten, sie allein zu lassen. Sie hatten sich still und gehorsam entfernt. Welchen furchtbaren Kampf mochte die unglückliche Frau gekämpft, mit wie heißen Gebeten mochte sie vom Himmel Kraft erfleht haben, in dem Kampfe nicht zu unterliegen, ihrem Entschlusse treu zu bleiben! In ihrem Schlafgemache hatte sie sich dann eingeschlossen.

Als, wie gewöhnlich, um sieben Uhr Abends die drei jüngeren Kinder kamen, um sich zur Ruhe zu begeben, lagen zwei große Briefe fertig geschrieben und versiegelt auf dem Tische. Auf dem einen fehlte nur noch die Adresse. Die Kinder waren still angekommen. Das blasse, verweinte Gesicht der Mutter sahen sie ja noch vor sich, und die schluchzende Bitte, sie nicht zu stören, tönte noch in ihren Ohren. Sie hatte zuerst die Kranke zu Bette gebracht, dann den Knaben. Die kleine Hanna, die still sein mußte und nicht plaudern durfte, war unterdeß am Tische eingeschlafen. Sie hatte sich, ermüdet und erschöpft, zu dem Kinde gesetzt und schrieb die Adresse auf den einen Brief. Dann starrte sie beide Briefe an, als wenn sie ihr Verhängniß, ihr dunkelstes Verhängniß enthielten. Dann fiel ihr Blick auf das schöne, freundliche Kind, das so süß neben ihr schief. Dann mußte sie nach der anderen Seite blicken, wo das Bett der kranken Clementine stand. Auch die Kranke schlief, aber es war ein so trauriger, erschreckender Schlaf. Und je trauriger er war, desto fester haftete Auge und Herz der Mutter darauf. Auch zu dem Knaben schweifte ihr Blick. Er schlief noch nicht und verfolgte mit seinen großen, dunklen, treuen Augen jede Bewegung der Mutter. Ihre Augen begegneten diesen Augen. Da konnte das Kind nicht mehr an sich halten.

„Mutter!“ rief es leise.

Das Wort, die Stimme durchfuhr sie elektrisch. Sie mußte aufspringen zu dem Kinde.

„Was willst Du, Bruno?“

„Mutter, gieb mir Deine Hand. Es ist mir, als wenn Du uns hier allein lassen wolltest.“

„Großer Gott!“

„Als wenn wir Dich nicht wieder sehen sollten.“

„Nein, nein!“ mußte sie laut aufschreien.

„Du bleibst bei uns, Mutter?“

„Kind, wie kamst Du auf solche Gedanken?“

„Ich weiß es nicht; aber wie ich Dich so traurig sah und wie ich nicht einschlafen konnte – und den Vater hatte ich den ganzen Tag nicht wieder gesehen, und es ist doch heute sein Geburtstag, und da hatten wir Alle so fröhlich sein wollen – da kamen so schreckliche Gedanken über mich, ich kann es Dir gar nicht sagen, Mutter.“

„Schlafe Du ruhig ein, mein guter Bruno.“

„Du gehst also nicht von uns?“

„Eure Mutter ist immer um Euch, und mit ihr der liebe Gott mit seinen Engeln. Schlafe, mein liebes Kind. Ich muß jetzt auch die kleine Hanna in ihr Bettchen bringen.“

Sie küßte den Knaben. Er legte sich zurück, um zu schlafen. Aber sie konnte noch nicht gleich die kleine Hanna zu Bett bringen. „Muß es denn sein?“ ging sie händeringend in dem Gemache umher. „Diese schönen, lieben, armen Kinder! Mein Herz, mein Herz! Aber er! Sein Stolz, seine Ehre! Ich muß! Nur ich stehe vernichtend in seinem Wege. Es muß sein.“ Sie trocknete die Thränen, die ihr mit Gewalt aus den Augen geschossen waren, und ging zu dem schlafenden Kinde, es zu Bett zu bringen. Das Kind lag in dem festesten Kindesschlafe. Sie weckte es nicht. „Möchtest Du nicht wach werden!“ sagte sie. Sie wollte es entkleiden und in sein Bettchen legen, ohne daß es erwachen solle. „Wenn ich Deine hellen Augen noch einmal sähe, mein süßer Engel –“ Sie konnte nicht weiter sprechen. Die Thränen stürzten ihr wieder aus den Augen, sie mußte laut, heftig aufschluchzen.

„Liebe Mutter, weine nicht so,“ bat leise der Knabe aus seinem Bettchen heraus.

Sie kleidete still das Kind aus und legte es in sein Bettchen. Sie küßte es. Es war nicht erwacht. Ein Dienstmädchen war eingetreten.

„Das Abendbrot ist unten fertig,“ meldete sie.

„Ist mein Mann da?“ fragte die Directorin.

„Der Herr Director ist noch nicht zurückgekehrt. Fräulein Emilie und der Herr Oskar sind unten.“

„Bitte sie, ohne mich zu essen. Ich bin nicht wohl und wünsche, hier oben allein zu bleiben.“

Das Mädchen ging. Aber da durchzuckte sie ein heftiger Schmerz. „Ich muß sie sehen! Noch einmal! Noch einmal!“ Sie rief das Mädchen zurück.

„Ich lasse meine Kinder bitten, mir vorher hier gute Nacht zu sagen.“

Wie stark war das weiche Herz der unglücklichen Frau! Ihre beiden älteren Kinder erschienen, Beide bleich, den schweren Kummer im Gesichte, Emilie verweint. Die Mutter konnte ihnen mit trockenem Auge, mit gefaßter, ruhiger Miene entgegentreten.


(Schluß folgt.)


Nicht zu übersehen!

Mit Nr. 52 schließt das vierte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

Ernst Keil.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_816.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2020)