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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

selbst anbelangend, so glaubte sie, ihr Alter und ihre Corpulenz mache ihr das ganz unmöglich; sie wollte indessen gern den Tod erleiden, wenn sie nur die Genugthuung hätte, mich gerettet zu sehen. Ich jedoch verweigerte es durchaus, sie zu verlassen, nahm sie bei der Hand und führte sie weiter. Sie willigte nur ungern ein und fuhr fort darüber zu klagen, daß sie meine Flucht verhindere. Nun begann Asche auf uns zu fallen, wenn schon nicht in großer Masse. Ich wandte mich um und sah einen dicken Rauch, der wie ein Bach sich hinter uns drein wälzte. Ich schlug vor, da es noch hell genug war, von der Straße abzubiegen, damit meine Mutter in der Dunkelheit von der uns folgenden Menschenmenge nicht zu Tode gedrückt würde. Kaum hatten wir die Straße verlassen, als dichte Finsterniß uns überfiel, nicht die einer wolkigen oder nicht vom Monde erhellten Nacht, sondern wie die eines ganz und gar verschlossenen, durch kein Licht erleuchteten Zimmers. Nichts war zu hören als das Wehklagen der Frauen, das Weinen der Kinder und das Rufen der Männer. Die Einen schrieen nach den Kindern, die Andern nach den Eltern, diese nach ihren Gatten (denn nur durch die Stimme konnten sie einander unterscheiden und erkennen). Jene beklagten ihr eigenes Loos oder das ihrer Familie. Mehrere wünschten zu sterben aus Furcht vor dem Tode, Andere wieder erhoben ihre Hände zu den Göttern. Die Mehrzahl bildete sich ein, die letzte und ewige Nacht sei gekommen und mit ihr der Untergang der Götter und der Welt. Unter diesen gab es solche, die das wirkliche Uebel noch durch eingebildetes vergrößerten, indem sie Andern glauben machten, Misenä stände wirklich in Flammen.

Endlich brach ein Lichtschimmer durch. Wir hielten es eher für den Vorläufer eines neuen Ausbruchs der Flammen, als für das, was es in der That war, nämlich die Wiederkehr des Tages. Das Feuer fuhr indeß fort niederzufallen. Dann wieder wurden wir in dichte Dunkelheit eingehüllt. Ein heftiger Schauer von Asche regnete nieder. Dann und wann, wollten wir nicht davon eingehüllt oder verbrannt werden, mußten wir sie von unserm Leibe abschütteln … Endlich verschwand nach und nach die Finsterniß gleich einer Wolke von Rauch. Der Tag kam wirklich wieder, und sogar die Sonne erschien, obgleich sehr schwach und wie von einer beginnenden Verfinsterung bedeckt. Alles, was sich rund um uns dem sehr angegriffenen Auge darbot, schien verändert und mit weißer Asche, gleich tiefem Schnee, überzogen. Wir kehrten nach Misenä zurück, wo wir uns, so gut es ging, erholten, und verbrachten zwischen Furcht und Hoffen eine ängstliche Nacht. Leider war ersteres Gefühl überwiegend, denn das Erdbeben dauerte fort, während mehrere überspannte Köpfe umher rannten und ihre und ihrer Freunde Uebel durch gräuliche Weissagungen vermehrten.“

Am entgegengesetzten Ufer des Golfes von Neapel, vier deutsche Meilen in gerader Richtung entfernt von dem Standpunkte des römischen Schriftstellers, herrschten zu derselben Stunde desselben Tages alle Schrecken des verheerenden Elementes. Dort lag dicht am Fuße des wildtobenden Berges die blühende Hauptstadt des sonnigen Campanien, das reizende, üppige, vergnügungssüchtige Pompeji, der vielbesuchte Sommeraufenthalt des römischen Patricierthums. Was den Bewohnern von Neapel, Bajä und Misenä nur zum Schrecken geschah, das gereichte denen von Pompeji und einigen andern benachbarten Orten, wie Herculanum, zum Verderben und zur Zerstörung. Nur Weniges von ihren Habseligkeiten rettend, flüchteten sich die Einwohner, 20,000 an der Zahl, rasch nach allen Richtungen. Mehrere wurden unter dem Gräuel der Verwüstung begraben, und die blühende Stadt selbst wurde ihr großes Grab, überdeckt von der Asche des Vesuv, einem einförmigen weißen Leichentuche.

Wenn wir heute die Stätte jener ungeheuern Verwüstung aufsuchen, nachdem abermals über hundert Jahre seit ihrer Wiederentdeckung vergangen, so begegnet unser Auge einem unvergleichlichen Bilde.

Wir betreten von dem „Thore der Marine“ her das Innere der Römerstadt. Draußen Alles buntes Leben, lebendige Bewegung und modernes Treiben, hier drinnen ernstes Schweigen, tiefste Ruhe und ewiger Stillstand. In raschem Fluge hat uns die Eisenbahn von Neapel hierhergebracht. In der Veranda des dicht an der „Station Pompeji“ gelegenen italienischen Wirthshauses finden wir ein hastiges Kommen und Gehen von Touristen aller Nationen, gemischt mit dem Geschrei der Kutscher, der Geschäftigkeit der Kellner, dem Geklimper und Geplärr italienischer Troubadours und dem Gewimmer der Bettler. An dem Eingangsgitter zu dem die Stadt umschließenden Erdwall werden wir von einer Schaar amtlicher Ciceroni aufgehalten. Ein langes Hin- und Herreden um den Preis für die Führung hemmt unsere ungeduldigen Schritte. Endlich werden wir auch dieses letzten Scandals ledig und wir treten ein in die Todtenstadt, wo mit einem Male der ganze Ernst der Vergänglichkeit uns umgiebt und der Geist des classischen Alterthums alle anderen Eindrücke des modern-italienischen Lebens verdrängt.

Doch folgen wir nicht weiter dem Fluge der Phantasie in jene fremde, großartige, vergangene Welt, sondern betrachten wir zuerst mit ruhigem und zerlegendem Blicke, was sich uns zur objectiven Betrachtung hier darbietet.

Pompeji ist in elliptischer Form gebaut, und sein Umkreis mag wohl eine deutsche Meile betragen. Es ist rings von Mauern umgeben, außer auf der Südwestseite; sei es, daß sie dort bei der Belagerung durch Sulla zerstört wurden, sei es, daß der rasche Fall des Bodens nach dem Meere zu sie unnöthig erscheinen ließ. Die Mauern sind aus schweren Tuff- und Travertin-Blöcken, ohne Kitt, sehr solid und in bedeutender Breite aufgeführt und meist doppelt, die äußere etwa 25, die andere gegen 40 Fuß hoch und beide durch einen 15 Fuß breiten Erdwall verbunden. Auf den Steinen finden sich noch pelasgische und oscische Schriften. Einzelne Thürme, meistens in der Nähe der Thore errichtet, bedeckten den Wall in seiner ganzen Breite; sie haben Bogengänge zum Durchmarschiren für die Truppen und Oeffnungen für Ausfälle bei Belagerungen. Augenscheinlich später gebaut als die Mauern, sind sie durch absichtliche Zerstörung jetzt nur noch Ruinen. – Acht Thore führten nach Herculanum, dem Vesuv, Capua, Nola, dem Sarno, Nocera, Stabiä (heut Castellamare) und ans Meer.

Die Straßen sind meistens sehr eng, und nur in den größeren kann es möglich gewesen sein, daß zwei Wagen, selbst von der geringen Breite, wie sie bei den Alten Sitte war, an einander vorbei kamen. Das Pflaster ist solid aus großen, eckigen, an einander gepaßten Lavablöcken, an den Seiten finden sich, etwa 1 Fuß erhöht, Trottoirs; die Geleise der Wagenräder sind noch deutlich zu sehen; auch giebt es Steine zum Aufsteigen für Reiter, sowie Löcher in den Seitenwegen zum Anbinden der Pferde. Brunnen an den Straßenecken und auffallende Reliefs auf den Pflastersteinen, die gegen bösen Zauber schützen sollten, sind nicht selten. Die Straßen sind meistens gradlinig und durchschneiden sich rechtwinkelig.

Bei den Privathäusern ist es nicht immer möglich gewesen, den Namen des Besitzers festzustellen; man nennt sie daher theils nach den darin gefundenen Gemälden und Statuen, so das Haus der Tänzerinnen, des Faun, des Narcissus, Apollo, Adonis, Meleager, Castor und Pollux, des dramatischen Dichters; theils nach den fürstlichen oder sonst hochgestellten Personen, in deren Anwesenheit sie ausgegraben wurden, so das Haus des Großherzogs von Toscana, des Königs von Preußen, des Kaisers Joseph, des Generals Championnet, der Großfürsten von Rußland; theils nach der vermuthlichen Beschäftigung der Inhaber, so das Haus des Arztes, weil hier medicinische Instrumente gefunden wurden, des Hufschmieds, des Apothekers, des Bildhauers etc. Die meisten dieser Privatwohnungen sind einstöckig; nur die besseren zählen zwei, sehr selten drei Geschosse. Die Kramläden sind eng und ärmlich; fast alle einander ähnlich, haben sie vorne den Raum für’s Geschäft, sind nach der Straße zu weit offen, mit einem großen, gemauerten Verkaufstische und einem kleinen Ofen etwa, wenn es eine Speisewirthschaft war; nach hinten ein oder zwei kleine, dunkle Wohnzimmer; Fenster giebt es da nirgends. Es war also zu jenen Zeiten, wie es heute noch ist, und die damaligen Kneipen und Cantinen scheinen sich so wenig verändert zu haben, als die Fischer und Barkenführer, die wir auf den pompejanischen Wandgemälden schon im selben Costüm, mit denselben rothen, beutelartigen Mützen erblicken, wie sie ihre neapolitanischen Confratres noch heute tragen. Manche dieser Boutiquen haben über der Thüre in rother oder schwarzer Farbe den Namen des Kaufmanns; bei anderen Anstalten deuten Figuren in terra cotta an, was darinnen zu haben ist; so bezeichnet eine Ziege einen Milchladen; zwei Männer, die eine Amphora tragen, eine Weinschenke; zwei Fechter eine Gladiadorenschule; ein Junge, der auf dem Rücken eines andern festgehalten und von einem Manne durchgeprügelt wird, eine Schule (?).

Die Häuser der Reichen, wenn auch geräumiger, verrathen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_774.jpg&oldid=- (Version vom 8.12.2022)