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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

hatten die Aerzte schon bald nach ihrer Geburt erklärt. Zwölf Jahre war sie jetzt alt. Noch anderthalb bis zwei Jahre Lebensfrist gaben ihr auch jetzt die Aerzte. Die Liebe der Eltern zu dem unglücklichen Kinde war mit jedem Jahre, das sie der Trennung von ihr näher brachte, eine schmerzlichere, eine innigere, eine heißere geworden. Auch die Geschwister hatten die Arme immer mehr lieben gelernt; wie sie an Geist und Körper ein Kind von sieben Jahren geblieben war, so hatte sie auch das gutmüthige Herz dieses Alters bewahrt.

Mutter und Kinder warteten auf den Vater. Es war in wenigen Minuten halb acht Uhr Morgens. Um halb acht kam der Vater aus seinem Arbeitszimmer herunter, um mit den Seinigen den Kaffee zu trinken. Bis dahin hatte er schon seit zwei Stunden gearbeitet. So war es täglich, und auch heute am Geburtstage wurde keine Ausnahme gemacht.

Er war ein eben so fleißiger, wie ordentlicher Mann, der Director Heilsberg. Das war auch weiter bekannt, über die Grenzen seines Gerichtsbezirks hinaus. Er war dazu ein ausgezeichneter Jurist, ein gewandter Arbeiter und vor Allem ein Mann der unerschütterlichen Gerechtigkeit und der fleckenlosen Ehre. Auch das war weiter bekannt, in der Residenz, an den höchsten Stellen, und damals wußte man an diesen höchsten Stellen noch in dem Beamten den Charakter, das unerschütterliche Festhalten an Recht und Ehre, zu schätzen und hochzuachten. Der Minister hatte den Kreisgerichtsdirector Heilsberg, obwohl er ein Bürgerlicher war, schon längst zum Präsidenten eines Obergerichts bestimmt. Die nächste Vacanz sollte ihn seiner Bestimmung entgegenführen. Der Director Heilsberg wußte es; es machte ihn glücklich. Ein Beamter, der sich seiner Rechtschaffenheit, seiner Unabhängigkeit und seiner Ehre bewußt ist, darf schon auch Ehrgeiz haben. Bei ihm kam zugleich Anderes hinzu.

Mutter und Kinder umstanden einen runden Tisch, der sich in der Mitte des Zimmers befand. Auf ihm lagen ihre Geschenke, die sie mit ihren Glückwünschen dem Erwarteten darbringen wollten. Es waren keine reichen Geschenke.

Der Director Heilsberg hatte früh als junger Assessor geheirathet. Er war arm gewesen, seine Frau ebenfalls. Sie hatten sich nur ihre an Liebe und Treue so reichen Herzen zugebracht; freilich auch den frischen Muth der Liebe, für einander zu arbeiten und, wenn es sein müsse, selbst mit einander zu entbehren. Und Beides hatten sie redlich gemußt, bei dem geringen Gehalte und bei dem Mangel an allem Vermögen. Der Assessor Heilsberg war allerdings nach einigen Jahren Rath, und der Rath war dann Director geworden. Aber er hatte sich dabei und dazu mancher Versetzung in andere Orte, selbst in entfernte Provinzen des Landes fügen müssen, und – zweimal versetzt ist einmal abgebrannt, sagt ein alles Sprüchwort in der Beamtenwelt. Dazu waren die Kinder gekommen und herangewachsen, und dem Stande angemessen leben mußte die Familie auch, wenn sie auch sparsam und einfach genug lebte und wenn auch die Directorin überall in der Hauswirthschaft fleißig mit zugriff und ihre älteste Tochter schon seit manchem Jahre ihr treulich darin zur Seite stand. So hatte sie nicht nur nichts zurücklegen, kein Vermögen sich erwerben können; es waren auch noch sogar einige ältere Schulden da, und neue Geldverlegenheiten traten dann und wann ebenfalls hervor.

Die Directorin konnte wohl auch an dem Fest- und Freudentage der Familie die sorgen- und kummervolle Miene haben. Mußte ihr Blick dabei doch auch auf das arme, an Geist und Körper so arme Kind fallen. Und vielleicht drückte noch etwas Anderes ihr das Herz zusammen.

Allein wie wenig reich die Geburtstagsgeschenke waren, die Blicke der Kinder hingen mit heller Freude daran; selbst das Auge der armen Kranken hatte einen leisen, matten Glanz. Und den Blicken der Kinder begegnete und folgte das Auge der Mutter, und es mußte unter all’ seinem Flor von Gram und Sorgen und vielleicht noch mehr doch eine stille Thräne des Glücks und des Dankes aufnehmen, des Dankes zu Gott, der ihr und den Kindern noch so viel Freude und Glück schenkte.

Die Stutzuhr in dem Zimmer schlug halb; es war halb acht Uhr. Die Kinder standen bewegungslos, stumm. Sie horchten dem Nahen des Vaters, der jetzt kommen mußte. Man hörte draußen einen Schritt.

„Der Vater!“ sagte die Mutter leise, ermahnend.

Die Kinder traten näher an den Tisch heran. Sie langten zu den Sachen, die sich auf ihm befanden. Jedes nahm das Geschenk, das es dem Vater zu überreichen hatte.

Emilie, die älteste Tochter, hatte einfach ein paar Pantoffeln gestickt; sie hatte nicht Zeit zu einer größeren Arbeit gehabt, bei der Hülfe, die sie der Mutter in der Wirthschaft leisten mußte.

Der ältere Sohn, er war Gymnasiast, hatte eine Reiseschreibmappe gekauft. Er legte ein zusammengefaltetes Papier hinzu.

„Was ist es, Oskar?“ fragte ihn die Mutter.

„Mein Schulzeugniß. Ich bin der Erste in meiner Classe geworden.“

Der Mutter fielen die hellen Freudenrhränen aus den Augen.

Der zweite Knabe, Bruno, hielt eine sammetne Morgenmütze mit großer Troddel daran für den Vater in der Hand.

Die Jüngste, Hanna, hob einen großen Papierkorb empor, den eine kunstvoll gestickte Guirlande umgab. Es war zugleich der Mutter Geschenk, von der die Stickerei herrührte.

„Aber ich habe auch daran gearbeitet,“ sagte die Kleine mit lebhafter Phantasie.

„Du hast der Mutter die Seide gehalten und die Perlen zugereicht,“ berichtigte sie der ehrliche Bruno.

„Ich habe aber auch einige Stiche gemacht.“

„Die Mutter führte Dir die Nadel.“

„Und so hast Du Deinen redlichen Theil an der hübschen Arbeit, meine gute Hanna,“ sagte die Mutter.

„Und ich darf es dreist dem Vater sagen.“

„Das sollst Du.“

Das schönste und glänzendste Geschenk für den Vater hatten sie der Kranken aufgehoben. Es war ein in glänzenden, bunten Perlen gestickter Klingelzug. Die Mutter und die älteste Schwester Emilie hatte ihn gemeinschaftlich gearbeitet, in mancher späten Abendstunde, die sie nach vollbrachter Arbeit des Tages dem Schlafe entzogen hatten. Die Kranke hielt das schöne Geschenk stolz in beiden Händen. Die augenblickliche Aufregung hatte ihre Nerven gestärkt, sie konnte auch den schweren, kranken Kopf aufrecht halten.

„Ich habe das auch gemacht, Mama,“ sagte sie, aber nicht in lebhafter Phantasie, wie die wilde Hanna; der kranke Geist gab fast mechanisch die Worte wieder, die sie aus dem Munte der jüngeren Schwester aufgefangen hatte.

„Ja, meine liebe Clementine,“ erwiderte ihr die Mutter, und keins von den Kindern hatte nur eine Sylbe oder eine Miene des Widerspruchs.

Der Vater war eingetreten. Zwar erst nur in das gewöhnliche Familienzimmer nebenan, in dem das Frühstück eingenommen wurde. Aber die Thür stand offen, und er sah in das Besuchzimmer und hier alle die Seinen in der fröhlichen und feierlichen Erwartung. Er trat zu ihnen. Sie kamen ihm entgegen.

Er war ebenfalls noch ein schöner Mann, in der ersten Hälfte der vierziger Jahre, der Director Heilsberg. Zeichneten sich aber die Gesichtszüge seiner Gattin durch Sanftmuth und Weichheit und durch jenen still getragenen Gram aus, sein Gesicht zeigte ganz den geistvollen, denkenden und charakterfesten Mann, freilich auch den ehrgeizigen, und selbst stolzen Mann, der wußte, was er galt und was noch mehr aus ihm werden müsse. Daß er aber in Nachdenken und Arbeiten, in Stolz und Ehrgeiz ein tiefes und inniges Gefühl bewahrt hatte, daß die treueste und herzlichste Liebe zu den Seinen in seinem Herzen stets frisch und stark geblieben war, das verriethen die lebhafte Freude und Rührung, die ihn bei dem Anblicke der auf ihn harrenden Gattin und Kinder ergriffen.

Die kleine Hanna mußte die Reihe der Beglückwünschungen eröffnen. Sie überreichte ihren großen Papierkorb allein. Sie konnte ihn hoch heben und dabei ihr Geburtstagsgedicht hersagen, das die Mutter sie gelehrt hatte. Die helle, klare Kindesstimme zitterte anfangs, aber wie frisch und fröhlich wurde sie dann, als sie glücklich und ohne ein einziges Mal zu stocken fertig geworden war; wie jubelnd flog sie empor, ihrem vollen Glücke sich hingebend, den Korb und Feierlichkeit und Steifheit von sich werfend, in die Arme des Vaters fliegend, ihre vollen Aermchen um seinen Hals schlingend!

Aber auch die Anderen mußten an die Reihe kommen. Der kleine Bruno durfte ihm die Morgenmütze sogleich aufsetzen; er that es sehr ehrbar. Etwas Philister war der brave Bursche schon jetzt.

Dem Gymnasiasten Oskar drückte er für das Zeugniß warm die Vaterhand.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_770.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)