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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Einmal war das Weißmann-Brauhaus das einzige Gebäude, das unversehrt geblieben war, daher stürmte Alles, was Unterkunft suchte und bedurfte, dahin zusammen – zum andern rückten fast jede Stunde neue Abtheilungen des französischen Heeres nach, die ebenfalls alle nicht den Ruinen und Brandstätten, sondern den bewohnten Oertern zueilten.

Bei dem Andrange der Obdachlosen und Flüchtigen konnten wir nicht umhin, den Einen oder Andern in unser ohnehin nicht sehr geräumiges Gemach aufzunehmen; das wiederholte sich aber öfter, und bald wurden wir ebenso wenig als der Hauseigenthümner gefragt, ob wir sie herein lassen wollten. Sie drängten sich eben herein, als wären sie alle auf einem im Untersinken begriffenen Schiff und unser Zimmer wäre das Boot, in das sich die Mannschaft flüchten müßte. Wäre es wirklich ein Boot gewesen, so wäre es schon am ersten Tage untergegangen oder umgeschlagen vor Ueberfüllung. Von Wohnen war nicht die Rede; wir lehnten nur an einander, und der war glücklich, wer eine Stelle an der Wand oder in einer Fensterbrüstung eroberte, wo er doch einige Stütze und die Möglichkeit des Ausruhens fand. Ein eroberter Stuhl, ein Tisch bildete den häuslichen Mittelpunkt einer Familie, der sorgfältig bewacht und mit schonungsloser Erbitterung vertheidigt wurde. Zu schlafen war den Meisten nur möglich, indem sie stehend an einander lehnten oder auf die Füße mühselig zusammen kauerten. In diesem Elend des Aufenthalts kam noch der Mangel an Nahrungsmitteln. Das Aermlichste und Ungenießbarste wurde wie ein Leckerbissen geachtet, und wer ihn durch Zufall oder auf andere Art errang, mußte auf der Hut sein, daß er ihm nicht von einem Rohern und Stärkern, den der Hunger zum Räuber machte, gewaltsam wieder entrissen wurde. Ich hatte mich mit den Meinigen zuletzt in den Winkel am Ofen zurückgezogen, hauptsächlich, weil unter den Füßen desselben die Kleinern, besonders bei Nacht, untergebracht werden konnten, ohne zertreten zu werden. Von dort aus konnte ich das entsetzliche Treiben wie aus einer Art Versteck betrachten. Ich konnte von da einen Blick thun in die Höhen und Untiefen des menschlichen Herzens, wie man von einem Bergrücken aus die weite Landschaft mit Bergen nur Thälern ausgebreitet sieht. Ich sah zwei Brüder, eisgraue Männer, die seit Jahren als Hagestolze miteinander ein ansehnliches Handelsgeschäft betrieben, sich wegen eines Stückes Fleisch in den Haaren liegen und erbittert miteinander kämpfen, bis der Eine ermattet und dem Verschmachten nahe zusammensank; aber ich sah auch eine Tagelöhnersfrau, die das Geschirr mit wärmender, im Capuzinerkloster erbettelter Suppe begierig an den Mund setzte, aber sogleich abbrach und sie einer andern Frau hinüberreichte, blos weil diese noch kränker und elender aussah, als sie selbst. Ich bemerkte einen jungen Mann, der mit thierischer Gier ein großes Brod verschlang, ohne auch nur einen Bissen seinem Weibe anzubieten, die vor Mattigkeit halb ohnmächtig am Boden lag; aber ich sah auch eine Frau, die den letzten zur nothwendigen eigenen Stärkung aufgesparten Schluck Wein einem unbekannten und ihr wildfremden Kinde gab, das sie mit verlangenden Augen angesehen hatte. Die das that, war meine Katharina.

Wir hatten in unserer Ecke mit unserem Vorrath trefflich hausgehalten, obwohl wir damit gegen unsere Leidensgefährten nicht gekargt hatten. Eine Hauptrolle spielten dabei einige Flaschen Rothwein, die letzten thatsächlichen Erinnerungen an Massena’s Gewogenheit. – Ich hatte anfangs gedacht, sie für äußerste Fälle aufzusparen; darum schien mir das Schürloch des von innen heizbaren Ofens der passendste Versteck dafür zu sein. Als ich aber eines Morgens nach meinem Schatze sah, fand ich, daß ein durstiger Nachbar gegenüber eine Ofenkachel ausgehoben und meinen Reichthum zu sich hinüber escamotirt hatte. Im ersten aufflamenden Zorn rannte ich um den Ofen herum, um ihn zur Rede zu stellen – aber ich war entwaffnet, als ich ihn sah. Er hatte es nicht einmal der Mühe werth gefunden, seinen Raub zu verbergen; bemeistert von dem vielleicht nie genossenen Getränke lag der Mann, ein ehrsamer Knopfmacher seines Zeichens, die leere Flasche in der Hand, im entzückten Schlafe da – neben ihm seine Lebensgefährtin, in deren Schooß eine zweite Flasche bewies, daß sie nicht gezaudert hatte, das Lebensschicksal des Gatten zu theilen, lächelnd trat ich zurück und war froh, daß eine etwas beiseite gekollerte Flasche dem einträchtigen Ehepaar entgangen war. Diese hatte ich nun wie ein Heiligthum bewahrt und wollte Katharinen das letzte Restchen reichen, die, noch immer vom Fieber geschüttelt, dessen am meisten bedurfte. Da erblickte sie neben uns ein Kind, ein Mädchen von kaum fünf Jahren, das, schwächlich gebaut, den Entbehrungen zu erliegen schien. Es war geraume Zeit im Zustande tiefen, betäubungsähnlichen Schlafs gelegen, und seine Augen hingen nun unwillkürlich, aber mit unverkennbarer Begier an dem gefüllten Glase. Als es getrunken hatte, neigte es das Köpfchen wie verklärt auf die Seite und entschlief wirklich, vielleicht weniger wegen des genossenen Weines, als weil ihm sein Wunsch erfüllt worden war.

Zu allem Leiden kam noch, daß in der Enge des Zimmers und in der abgeschlossenen Luft auch die Gesundheit leiden mußte. Ueber achtzig Menschen waren darin eingepfercht, ein Drittel davon war krank, und es verging kein Tag, wo nicht mitten unter uns der Tod sich seine Opfer holte. Es war ein eigenthümliches ernstes Gefühl, immer das Sterben so als Wandnachbar zu haben und die letzten schweren Seufzer zu hören, und doch ist es im Leben überall und zu jeder Minute nicht anders! Aber eine vorsichtige Hand hat uns all das auseinander und in die Ferne gerückt. Wäre das Leid jeder Stunde in der Welt in eine Stube zusammengedrängt, so wäre in keiner für das Lächeln eines Säuglings Raum.

Das Entsetzliche unserer Lage wurde durch die ununterbrochen nachrückenden Franzosen in’s Unglaubliche gesteigert. Die später kamen, wurden immer wilder und erbitterter als die früheren, denn sie waren alle beutelustig und doch fanden sie bei uns nichts mehr, sie hätten uns denn ausgezogen bis auf die Haut. Darüber ließen sie ihren Unmuth in Mißhandlungen aus: sie stießen mit den Bajonneten in die eingekeilte Menge, die nicht auszuweichen vermochte. Alle Augenblicke knallte ein Schuß, und die Kugel fuhr sausend über unseren Köpfen an die Wand, schwere Steine schmetterten in den Menschenknäuel; Jammergeschrei, Wehklagen und weinendes Gebet bezeichneten jeden Wurf.

Es war unmöglich, länger so auszuhalten. Zu dieser Ueberzeugung hatte ich mich zuvor allein aufgemacht, um eine andere Unterkunft zu suchen, und es gelang mir, eine solche in dem Landgerichtsgebäude zu finden. Ein Gewölbe des Erdgeschosses hatte dem Brande widerstanden und bot eine ebenso abgelegene als sichere Zuflucht. Fliegenden Schritts kam ich zurück, um die Meinigen dahin abzuholen.

Wir waren schnell marschfertig. Kaum waren wir aber aus dem Zimmer in den Hofraum herausgetreten, als wir uns von einer halb betrunkenen Soldatenschaar umringt sahen. Diese hatten sich ein großes Lagerfaß mit Bier aus dem Keller herausgewälzt, den obern Boden eingeschlagen und schöpften nun achtlos und in verschwenderischem Uebermaß mit Schüsseln, Häfen und Geschirren aller Art den ungewohnten Trank, dessen Wirkung sich bald fühlbar machte. Die Einen lagen singend und zechend am Boden herum. Andere hatten sich zu einem wüsten und ausgelassenen Tanze zusammengefunden, und wieder Andre hatten sich weitere Kurzweil ersonnen. Aus der Capuzinerkirche hatten sie die Fahnen herbeigeschleppt und schritten nun damit in wilder Procession tobend und johlend im Hofe herum, hinter sich die Tumba, auf welche sie ein geschlachtetes Schwein ausgestreckt hatten und psalmodirend herumtrugen.

Der Ueberfall, den wir erlitten, galt Constanzen, deren Schönheit den wüsten Gesellen aufgefallen war. Ein wüster, bärtiger Dragoner riß sie von Katharina’s Arm, drückte sie ungestüm an sich und wollte sie küssen. Das Mädchen aber schleuderte ihn mit einer Kraft, die man ihr nicht zugetraut hätte, von sich, daß er taumelte und beinahe zu Boden fiel. Das machte ihn um so begieriger und die Uebrigen wüthend. Schreiend hielt uns die ganze Schaar umringt, während der Dragoner mit Constanzen rang und sie an sich zu reißen versuchte. Der Uebermuth, schrie er, müsse gezüchtigt werden! Nun begnüge er sich nicht mit einem Kusse, sondern das Mädchen müsse ihm ganz angehören und ihm folgen. Wiehernder Beifall seiner Cameraden begleitete seine Worte. Vergebens bemühte ich mich, meine Tochter aus den Klauen des Unthiers zu befreien, vergebens weinte und flehte meine Katharina – vor unsern entsetzten weinenden Augen sahen wir das arme Mädchen im Nu durch ein Dutzend roher Fäuste von uns gerissen und durch die höhnende Schaar von uns getrennt. In ohnmächtiger Verzweiflung raufte ich mir das Haar, im herzerreißendsten Tone erscholl die Stimme Katharina’s: „Mein Kind! Constanze! Laßt mir meine Constanze!“ – Da, im entscheidenden Augenblicke, tönte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 756. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_756.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)