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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

baumlangen bärtigen französischen Pioniers, der unter den Ersten der Eingedrungenen nun ebenfalls sein gutes Glück versuchte. Der Mann mußte gesehen haben, was vorging, denn als ich mich, von den herbeigeeilten Meinigen umringt, wieder aufrichtete, sahen wir ihn dem Grenzer nacheilen, zugleich aber uns mit Gebehrden zurufen, die sich nicht anders deuten ließen, als er wolle dem Räuber mein Eigenthum abjagen. Wir hatten uns auch nicht getäuscht. Als der Pionier sah, daß der Blaue einen zu großen Vorsprung hatte, zog er eine Pistole aus dem Gürtel seines Schurzfells, schoß, und mit dem Knall sahen wir den armen Teufel mit dem Maroquin Etui einen Luftsprung machen und dann schwer aufs Pflaster niederschlagen. Wie der Pionier ihn erreichte, nahm er ihm richtig das Etui ab, öffnete es und schob es dann gemüthlich in die Brusttasche seines Schurzfellen, indem er uns freundlich lachend zuwinkte wie Einer, der sich für ein unerwartetes reichliches Geschenk bedankt. Mein Sohn Hans entbrannte vor Ingrimm und wollte dem neuen Frevler nach. Ich ließ es nicht angehen. „Willst Du seine Axt am Kopfe haben?“ rief ich. „Laß ihn laufen – wenn ihm das Geld nicht mehr Segen bringt, als dem armen Slovaken dort, ist er übel genug daran! Es ist kein Grund zum Zorn da – lachen wir lieber über uns selbst, daß wir mit offnem Munde dagestanden sind und eine Weile geglaubt haben, der Pionier verfolge den Räuber unsertwegen und werde so gefällig sein, das Geld uns zurückzubringen … Kommt aus der Stadt, in der wir nichts mehr zu suchen haben. Wir wollen unser Leben und die Kraft für die Zukunft bewahren, die uns noch vorbehalten ist, und wollen froh sein, daß uns das Leben geblieben ist!“

„Das nackte Leben!“ seufzte meine Katharina, indem wir an einandergehängt durch die qualmende Straße schritten, „das Leben und was wir auf dem Leibe tragen! Sonst ist Alles verloren! Und dabei willst Du, leichtsinniger Mensch, daß man froh sein soll!“

„Wir haben Ursache dazu,“ erwiderte ich, „wir haben doch noch etwas, das ist immer ein Trost! Denk wie schlimm es wäre, wenn wir in der Kälte ohne warme Kleider herumlaufen müßten … oder wenn wir Eins von den Unsern so da liegen sähen!“

Wir schritten im Augenblick an dem todten Grenzer vorüber, und die verdrehten weißen Augen starrten uns unheimlich aus dem verzerrten Gesicht an. Er ist mir seitdem oft eingefallen im Leben, wenn ich sah, daß der Eine mit Fleiß und Sorge erwarb, der Andre das Erworbene mit List an sich brachte und ein Dritter Beide mit Gewalt bei Seite schob.

Endlich gelangten wir durch das Allerheiligenthor in’s Freie. Es war vollständig Nacht geworden, aber die brennende Stadt leuchtete weit in das Dunkel hinein. Vom Inn her blies es uns kalt auf den Leib, und Schnee begann in feuchten Flocken zu fallen, welche vergingen, wie sie auf den Boden gelangten. Müde und niedergebeugt erreichten wir nach kurzer, aber mühevoller Wanderung den Bauer in der Waitzenau, ein großes, auf der Höhe des Innufers einsam und ziemlich versteckt gelegenes Hofgut. Ich kannte den Bauer und war oft im Sommer mit den Meinigen dahin spaziert, damit wir uns an der trefflichen Milch erlaben und die minder auf den Wiesen und im anstoßenden Walde sich ausspringen konnten. Dort hoffte ich freundliche Aufnahme und Sicherheit zu finden und fand mich nicht getäuscht, obwohl wir nicht die Ersten waren, sondern das Haus schon von Flüchtigen angefüllt fanden. Dennoch brachte uns die Bäuerin voll Mitleid und Geschäftigkeit in einer Kammer unter und schüttete uns ein Strohlager auf, auf das wir erschöpft niedersanken, glücklich, von den drohenden Wechselfällen befreit zu sein und den höllischen Lärmen nicht mehr zu hören, der wie ein großer, entsetzlicher Schrei endlos über den brennenden Giebeln brüllte. Auch einige Lebensmittel brachte die Bäuerin herbei, und war auch uns und den Größern aller Appetit vergangen, so ließen doch die Kleinen den Milchschüsseln alle Ehre widerfahren. Ein Viertelstündchen später lagen sie schon auf dem Stroh in so festem Schlaf, als wären sie nie in einem Bette gelegen, und als hätten sie das schützende Dach der eigenen Behausung über sich und nicht das Nothdach fremden Mitleids. Hans ging leise ab und zu und spähte in die Nacht hinaus, ob Alles ruhig bliebe, während ich nun erst der Abspannung inne wurde, die ich den Tag über ausgehalten hatte, und in der Ecke niederkauerte. Vor mir hatte sich Katharina hingelagert und suchte, den Kopf auf meinem Schooße, im Schlummer das fieberhafte Unwohlsein zu bezwingen, das die Reihe der erlebten Erschütterungen in ihr hervorgerufen hatte. Nebenan lehnte sich Constanze, bald ebenfalls der Ermüdung erliegend und im Einnicken halb unwillkürlich an meine Schulter sinkend. Auf dem Simse des einzigen Fensters brannte ein trübes Oellämpchen, wie es die Bauern in den Ställen haben, bei seinem Scheine überblickte ich nun die Lieben alle, deren Leben an das meinige geknüpft war.

Sie schliefen, und mit dem Schlafe war Beruhigung über sie gebreitet, und mit gerührter ahnender Seele dachte ich der Geschicke, die ihnen bevorstehen würden im Leben. In einer Art von wachendem Traum oder traumhaftem Wachen sah ich in ihre Zukunft hinaus, und das war ein weites, schönes, sonnenbeschienenes Land. Ihre wirklichen Wege sind um Vieles anders geworden, und ich dachte später bei allen Leiden, die über sie kamen, an dieses Gesicht und erkannte, daß wir Menschen in solchen Dingen überall das Spiel unserer eigenen Wünsche sind. Wir glauben etwas Gegenständliches außer uns zu sehen, und es sind doch nur Phantome, wie die Fata Morgana, nur Spiegelbilder unserer Phantasie, die wir glauben, weil wir sie wünschen. Es wäre dabei auch nicht so viel Schlimmes, würde nicht meistens über den Träumen die Wirklichkeit übersehen – wie ich es that. Als ich zu mir kam, ruhte mein Blick mit Entzücken auf Constanzens Angesicht, auf welchem der Schlaf herrliche Rosen aufblühen gemacht hatte. Ich sah sie lange an und erblickte darin bestätigende Vorboten und Zeugen meiner schönen Träume; wäre ich weniger von diesen befangen gewesen, so hätte ich in jener unheimlichen Röthe den ersten Stich des Wurmes erkannt, der meine holdeste Blüthe zu benagen begann. Vielleicht wäre damals noch Hülfe möglich gewesen, und sie hätte nicht von hinnen gemußt in der ersten Schönheit des Lebens.

Inzwischen war es Tag geworden, und die Sonne schien so hell durch die trüben Scheiben des Kammerfensters auf das Stroh darin, wie sie gestern in die freundlichen Zimmer und auf Alles, was ich besaß, geschienen hatte. Damit war auch die Ruhe zu Ende und ich wurde arg aus meinen Phantasiern aufgeschreckt, wie denn das Träumen immer von der Wirklichkeit gestraft wird. Rauhe Männerstimmen schrieen durcheinander, Waffen klirrten, Schüsse knallten und verriethen, daß unsere Drangsale noch lange nicht vorüber waren. In der Dunkelheit hatten die anrückenden Abtheilungen der Franzosen den zur Waitzenau führenden Waldweg nicht bemerkt; bei beginnender Tageshelle stürmte bald ein wilder Trupp heran, um zu plündern und Beute aller Art mit sich fortzuschleppen. Bald genug, noch ehe wir sie erblickten, verkündete das Geschrei der übrigen Flüchtigen, die im Bauernhause untergebracht waren, daß sie sich schon an’s Werk gemacht hatten.

Ich rieth den Meinigen, die, aus dem Schlafe aufgeschreckt, zweifach ängstlich dastanden, sich so ruhig als möglich zu halten. Unsere Kammer lag seitwärts und nach hinten zu; es war möglich, daß sie nicht bemerkt wurde. Der Mensch hört eben nie auf, sich selbst zu täuschen, und wenn ihm das eine Spielzeug in der Hand zerbricht, hascht er eiligst nach einem neuen. Es vergingen aber nur Minuten, so sahen einige Köpfe von keineswegs einschmeichelndem Ausdruck durch die Scheiben; im nächsten Augenblicke war die Thür aufgerissen, und wir waren von einer wild durcheinander schreienden und mit Waffen gesticulirenden Schaar umringt. Wir hatten ihrer nicht mißzuverstehenden Gebehrdensprache nur die ebenso deutliche des Bittens entgegen zu setzen, sie erwies sich aber von weit geringerer Wirksamkeit. Die Burschen waren von allen Regimentern und Waffengattungen zusammengewürfelt; Chasseurs und Voltigeurs, Husaren, Uhlanen und Dragoner, Kanoniere, Füsiliere und Grenadiere. Zu anderer Zeit und unter anderen Umständen mochte eine solche Begegnung sehr interessant sein, denn sie gab Gelegenheit zu umfassenden Costumestudien. Leider waren wir nicht dazu aufgelegt und hätten nur gewünscht, daß auch unsere bärtigen Vis-à-vis sich in gleicher Stimmung befunden hätten.“

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 740. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_740.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)