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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

schlagende Reparaturen; die Frau nähte für die Leute. Meine Jungen hatten mir einige Möbel etwas stark schadhaft gemacht, der taubstumme Tischler sollte dieselben ausbessern.

Eines Sonntags, als Beide daheim waren, ging ich hinüber. Ich pochte an. Lieber Gott, sie hören’s ja nicht! Unangemeldet und deshalb verlegen und leise trat ich ein. Die Frau nähte am Fenster, der Mann las in einem Buche. Sie hatten mein Kommen nicht bemerkt. Ich wußte nicht, was ich beginnen sollte, beinahe wäre ich wieder fortgegangen. Es war so eigenthümlich still im Stübchen; aber nett und traulich war Alles eingerichtet. Blumen blühten auf dem Fensterbrett; einfach lackirte Möbel standen im Zimmer, einige hübsche Zeichnungen schmückten die Wände. Ich trat einen Schritt vor – da bemerkte mich der Mann. Er stand auf und grüßte mich mit einem sehr deutlich gesprochenen „guten Morgen!“ Erschrocken trat ich zurück, als ich ihn reden hörte. Ist er nicht taubstumm? Ober bin ich in die unrechte Thür gekommen. Jetzt kam auch die Frau herzu. Ich entschuldigte mich und brachte mein Anliegen vor. Beide sahen mir dabei aufmerksam auf Mund und Augen, und der Mann bat mich, etwas langsamer zu sprechen. Ich folgte der Weisung und bemerkte mit Erstaunen, daß ich vollkommen verstanden wurde. Mit bewundernswürdiger Schnelligkeit lasen die Beiden die Worte von meinem Munde ab. Auch ich verstand jedes ihrer Worte. Wohl lag in ihrer Sprache und Ausdrucksweise etwas eigenthümlich Fremdes, etwas Kindliches, und manche seltsame Wortbildung traf mein Ohr. Fast klang es mir, als redete ich mit Ausländern, etwa mit Engländern, die der deutschen Sprache zwar mächtig, doch hier und da sich eigenthümlich ausdrückten und accentuirten.

Ich besah mir die an der Wand hängenden Zeichnungen, und der Mann theilte mir mit, daß dies noch Andenken an seine Schulzeit seien. Den Ehrenplatz unter den einfachen Bildern nahm ein Portrait ein. Er führte mich vor dasselbe und mit leuchtenden Augen erzählte er mir, dies sei das Bild seines geliebten Pflegevaters und Lehrers, des verstorbenen Magister Reich. Mit rührender Liebe gedachten Beide des edeln Mannes und des Institutes, das sie gebildet hatte und noch jetzt ihr geistiger Mittelpunkt zu sein schien.

Schließlich verehrte mir der Tischler noch einige Schulprogramme, Genaueres über das Leipziger Taubstummen-Institut enthaltend, und lud mich ein, mit ihm heute Nachmittag die Anstalt selbst zu besuchen. Die Sache interessirte mich, und gern versprach ich mitzukommen.

Oftmals war ich an jener Anstalt vorbeigegangen, war auch wohl ein Weilchen stehen geblieben und hatte durch’s Gitterthor zugesehen, wie die Kinder im Garten herumspielten. Aber die Sache hatte für mich kein bleibenderes Interesse; ich vergaß es bald wieder, weil ich keine Ahnung davon hatte, was darin getrieben würde. Ich hielt das Ganze wesentlich für eine Versorgungs- und Verpflegungsanstalt, bedauerte im Vorbeigehen die armen Kinder und pries die Humanität, die solche Anstalten gegründet, in denen diese Unglücklichen doch wenigstens mechanisch zu etwas Nützlichem ausgebildet würden. Schon das Lesen der Schulprogramme brachte mir jetzt andere Ansichten bei und spannte mein Interesse auf’s Höchste. Schade, daß diese Programme nicht im Buchhandel erscheinen, sondern nur privatim vertheilt werden; sie würden manches Vorurtheil zerstören und der Anstalt manchen neuen Freund gewinnen.

Zur bestimmten Stunde holte mich mein Führer ab. Das Leipziger Taubstummen-Institut liegt in der Nähe des bairischen Bahnhofs am Eingange in das Johannisthal, jene freundliche Gartenstadt, in welcher der Leipziger ein den ganzen Sommer hindurch währendes Laubhüttenfest feiert. Im Garten, ganz isolirt dastehend, erhebt sich das Gebäude, umgeben von hübschen Anlagen, die zum Tummelplatz der Kinder dienen. Bei unserm Eintritte in den Garten waren eben sämmtliche Zöglinge, Knaben wie Mädchen, auf ihren Spielplätzen. Welch lustiger und doch tief ergreifender Anblick! Einige spielten mit dem Ball, andere haschten sich um ein Rasenrondell herum. Stille Leute, wie ich in meiner Ueberschrift sagte, waren’s eben nicht; sie lachten und sprangen, gerade wie vollsinnige Kinder desselben Alters.

Es mochten gegen 100 Kinder sein, Knaben und Mädchen, groß und klein – und alle taub – mir trat’s Wasser in die Augen; ich dachte an meine Kleinen daheim. Wie freut’s mich, wenn sie mich mit frischer, heller Stimme begrüßen und mir dies und jenes vorschwatzen! Ihr armen Eltern dieser unglücklichen Kinder, wie mögt auch Ihr Euch auf die Zeit gefreut haben, da Euer Kind Euch mit dem süßen Vater- und Mutternamen rufen würde! und die Altersgenossen Eures Kindes sprachen längst, aber dem Euern blieb die Zunge gebunden. Immer noch hofftet Ihr. Du arme Mutter, welch ungeheurer Schmerz durchzuckte Deine Brust, als sich Dir endlich die furchtbare Gewißheit aufdrängte: Dein Kind ist taub!

Mein Eintreten in den Garten störte die Kinder einigermaßen im Spiele. Die Meisten begrüßten mich mit einem freundlich gesprochenen „guten Tag!“ – Mein Begleiter stellte mich dem aufsichtführenden Lehrer vor, und dieser hatte die Güte, mich mit der Anstalt und ihrem Wirken so genau als möglich bekannt zu machen.

Unmittelbar vor dem Gebäude steht auf einem frischgrünen Rasenplatze ein einfacher Denkstein, einer edlen Leipziger Dame, der Frau Dr. Carl gewidmet, welche dieser segensreichen Anstalt ein Capital von mehr als 20,000 Thlr. geschenkt hat. Das Institut ist eine sogenannte pia causa. Es hat sich nämlich durch die Wohlthätigkeit edler Menschen nach und nach ein Fond gebildet, dessen Zinsen für die Anstaltszwecke verwendet werden; das Fehlende giebt der Staat. Diesen fortwährend im Wachsen begriffenen Fond, der natürlich, je größer er wird, auch desto mehr zum Gedeihen der Anstalt beiträgt, verdankt das Institut wesentlich dem Edelsinne von Leipzigs Einwohnern, die oft noch in der letzten Stunde der armen Taubstummen gedenken. Aus andern sächsischen Orten wird verhältnißmäßig sehr wenig dazu gethan, obgleich die Anstalt ihre Pforten allen sächsischen Taubstummen, besonders denen des Leipziger und Zwickauer Kreisdirectionsbezirks – die aus den übrigen Theilen des Landes werden gewöhnlich in das Dresdner Institut gebracht – öffnet.

Wir traten in das Innere des Hauses, in die großen Aufenthaltszimmer der Knaben. Dort befinden sich die Büsten zweier Männer, deren Namen alle Taubstummen segnend nennen. Es sind dies – Samuel Heinike, der Begründer der deutschen Taubstummenerziehung und Stifter des Leipziger Instituts, und sein Nachfolger, Director Carl Reich, der Ausbauer dieses segensreichen Werkes.

Die Leipziger Anstalt ist die älteste ihrer Art in Deutschland. Sie wurde von Samuel Heinike begründet. Dieser Mann, auch auf andern Gebieten der Pädagogik ausgezeichnet – er war einer der Ersten, die dem Schulschlendrian jener Zeit energisch entgegentraten – wurde 1729 in dem Dorfe Nautschütz bei Weißenfels an der Saale geboren. Von seinen Eltern zum Landmann bestimmt, trat er, um dem zu entgehen, in Dresden in Militärdienste. Mit Aufopferung jeder freien Minute und Entbehrungen aller Art arbeitete er sich geistig so empor, daß er, obwohl schon verheirathet, sich in Jena Universitätsbildung aneignen konnte. Zufällig war ihm schon in Dresden ein taubstummer Knabe zugeführt und von ihm mit glücklichem Erfolg unterrichtet worden. In seiner spätern Stellung, als Cantor im hamburgischen Klosterdorfe Eppendorf wurde ihm abermals ein tauber Müllerssohn übergeben. Das günstige Resultat, das er auch hier errang, das ihm sogar, als einem, der Gott meistern wolle, die Verfolgung zelotischer Geistlicher zuzog, bewog ihn, mehr und mehr seine Kraft diesen Unglücklichen zuzuwenden. Nachdem er das Anerbieten des Grafen Schimmelmann, in Wandsbeck ein größeres Institut zu errichten, aus ehrenwerthen Gründen abgeschlagen, folgte er dem Rufe des Kurfürsten, nachmaligen Königs Friedrich August von Sachsen und begründete im Jahre 1778 zu Leipzig die erste Taubstummenbildungsanstalt in Deutschland.

Mit ihm zu gleicher Zeit beschäftigte sich in Paris der Abbé de l’Epée mit der Taubstummenerziehung. Aber beide Männer stehen in ihrem Wirken ganz selbständig da, sie hörten erst von einander, nachdem die Zeitungen von ihren Erfolgen berichtet hatten. Und dann standen sie sich als Gegner gegenüber. Der Abbé meinte, die Pantomime (Gebehrdensprache) und das geschriebene Wort seien ausreichend zur Bildung der Taubstummen, während unser Heinike wesentliches Gewicht auf das gesprochene Wort legte. Er lehrte seine Zöglinge sich schriftlich und mündlich ausdrücken und füllte so möglichst den Unterschied zwischen Hörenden und Tauben aus. Erst die Neuzeit ist Heinike gerecht geworden. Jetzt wird fast in allen Taubstummenanstalten Deutschlands das Sprechen geübt und gepflegt. Heinike’s Nachfolger im Leipziger

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_600.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)