Seite:Die Gartenlaube (1861) 546.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Macht, die er neben einem Menschen wie Johnson nur zu nöthig haben wird!“ Mit einem freundlichen Nicken trennte er sich von den jungen Leuten. – Der Geschäftsschluß war an diesem Abend kaum vorüber, als Reichardt sich auch schon auf dem Wege nach Frost’s Hause befand. Ein Drängen und Zweifeln, ein Hoffen und Fürchten zog ihn mit Macht dahin und als er dort die Klingel faßte, meinte er kaum anders zu fühlen, als da er zum ersten Male hier gestanden hatte.

Er fand die sämmtlichen Familienglieder in dem hintern Zimmer, wo das Piano stand, versammelt. Sein erster Blick indessen flog nach Margaret; er sah ihr Gesicht bei seinem Eintreten aufglühen, aber ein helles, klares Lächeln grüßte ihn und schuf in seiner Seele plötzlich eine Gewißheit seines Glücks, die alle seine Seelenkräfte wie mit neuem, sprudelndem Leben durchströmte. Lachend beantwortete er John’s launigen Gruß, trat mit einem fast muthwilligen Blicke Harriet’s neckendem Auge, in welchem wieder der ganze sprühende Geist früherer Zeit erwacht zu sein schien, entgegen und saß bald, ein Gefühl wie beseligende Heimath im Herzen, unter den Uebrigen.

Es waren sonderbare Stunden, welche sich an diesem Abende folgten. Oft war ein Gespräch über die gewöhnlichsten Dinge im Gange, und doch schien es mit einem Interesse und einer glücklichen Laune geführt zu werden, als läge in jedem Worte noch ein anderer, geheimer Sinn. Bald stockte die Unterhaltung wieder gänzlich, während Jedes seine eigenen Gedanken zu verfolgen oder die eines Andern in dessen Augen errathen zu wollen schien, bis der alte Frost mit einigen Worten der Unterhaltung einen neuen Anstoß gab.

„O, da fällt mir etwas ein,“ rief Harriet mitten in einer solchen Pause, „Mr. Reichardt ist gewiß einmal so freundlich, uns das deutsche Lied zu singen, das er in meines Vaters Hause vortrug. Höre ich es nicht noch einmal, so quäle ich mich gewiß wieder Tag für Tag damit ab und finde doch die Melodie nicht!“

Bereitwillig erhob sich der Deutsche, während John herzu sprang, um das Piano zu öffnen.

„Zieh’n die lieben, gold’nen Sterne,“

begann der Erstere nach der Einleitung, kaum aber hatte er die Anfangs-Strophen gesungen, als es ihn wie ein unbesieglicher Widerwille gegen das Musikstück überkam. Alle mit seiner „Schwester“ Mathilde früher durchlebten Scenen schienen von den Klängen plötzlich vor seine Seele gerufen worden zu sein. Das Lied, in diesem Kreise gesungen, wollte ihm wie eine Verhöhnung und Entweihung seiner tiefsten, besten Gefühle erscheinen, wie ein Herüberziehen der geschwundenen Trübsal in sein jetziges Glück – er brach plötzlich ab und sprang auf. „Erlassen Sie mir das Stück heute Abend,“ sagte er fast bittend, „zum rechten Vortrag gehört auch die rechte Stimmung, und seit ich meine Heimath hier gefunden habe, vermisse ich wahrlich keine andere.“

Fast unwillkürlich hatte sein Blick bei den letzten Worten Margaret’s Auge gesucht, und wie ein helles Verständniß strahlte es ihm dort entgegen; Harriet aber war aufgesprungen und rief in lustigem Spotte: „O Sie können auch sentimental sein? Zur Strafe sollen Sie jetzt gerade dies Lied weiter singen!“

„Ich schaffe Ihnen die Noten und einen englischen Text obendrein, Miß!“ gab Reichardt wie in halber Angst zurück. Zu seinem Glücke aber ließ die Meldung, daß der Abendtisch bereit sei, ein weiteres Verfahren gegen ihn nicht aufkommen.

Der alte Frost erhob sich, und die beiden Paare folgten. „O Miß Margaret,“ flüsterte Reichardt dem Mädchen zu, das leicht in seinen Arm gehangen neben ihm schritt, „wie geht es sich heute so anders zu Tische!“

Sie hob lächelnd das große Auge zu ihm. „Warum haben Sie nicht längst schon Ihre bösen Geister, die sicherlich nicht in unser Land passen, von sich gejagt?“ fragte sie.

„O, Sie haben nur zu Recht; aber wahrlich,“ erwiderte er leise, indem er mit festem Drucke die über seinem Arme hängende kleine Hand faßte, die nur kurz sich dagegen sträubte, „Sie sollen nichts mehr von Gespensterfurcht an mir wahrzunehmen haben!“

Als Reichardt zwei Stunden später seine Wohnung wieder betrat, blickte ihm vom Tische sein Violinkasten entgegen, und es wurde ihm, als merke er erst jetzt, wie lange er das Instrument, diesen verschwiegenen Freund in Leid und Freud’, vermißt habe.

Bedurfte er doch eines Vertrauten im Augenblicke mehr als je, um sich aussprechen zu können. Denn hatte er sich auch tief glücklich gefühlt, als er Margaret zu Tische geleitet, so sollte er es doch noch in größerem Maße während des Mahls selbst werden. Da hatte John, der eine Weile nachdenklich gesessen, plötzlich begonnen: „Ich denke, Vater, Du wirst Dich mit Margaret ziemlich einsam fühlen, so lange ich weg bin, und ich möchte deshalb vorschlagen, daß Ihr Reichardt als meinen Stellvertreter bei den Mahlzeiten installiret – er scheint sich ja jetzt behaglicher in unserem Hause zu fühlen!“ hatte er mit einem Blick auf Margaret hinzugesetzt, welcher dieser das Blut in die Wangen getrieben. Und der alte Frost schien angenehm von dem Gedanken berührt worden zu sein, und Reichardt hatte auf die Frage um seine Zustimmung nur mit ganzem Herzen sich zur Disposition stellen können, und so war er jetzt schon fast zum Familiengliede geworden.

Als er den Violinkasten öffnete, blickte ihm, unter die Saiten des Instruments geschoben, ein zierliches Billet entgegen. Er entfaltete es rasch und las:

„Bruder Max!

Noch einmal einen herzlichen Gruß von der Schwester. Ich empfing Deinen Absagebrief mit recht gemischten Empfindungen, aber es ist wohl besser so, daß wir unsere Wege nicht auf’s Neue vereinigen – wenigstens besser für mich, die jetzt so glücklich und zufrieden ist, als sie es nur jemals zu werden erwartete. Laß uns also Abschied von einander nehmen, und sollte uns das Leben je wieder einmal zusammen führen, so möge das von der Noth hervorgerufene Geschwister-Verhältniß aus unserer Erinnerung gestrichen sein – meinerseits glaube ich dies Mr. Fonfride zu schulden, und Dir kann ja am wenigsten an einer Vertraulichkeit gelegen sein, welche nur Deinem edelmüthigen Herzen entsprungen war. – Kaum glaube ich, daß wir unsere Kunstreisen noch für längere Zeit fortsetzen werden; sie waren ohnedies für Fonfride nur mehr das Steckenpferd des einzeln stehenden Mannes, und seit er in nähere Beziehungen zu einzelnen im gleichen Hotel mit uns wohnenden Familien getreten ist, scheint auch das Wanderfieber bei ihm nachzulassen. Er hat schon seit Deiner Absage davon gesprochen, nur eine Tour bis New-Orleans zu machen und von dort, ehe wir einen festen Wohnort wählen, mich zu einer Vergnügungsreise nach Frankreich mit hinüber zu nehmen.

So lebe denn wohl, Max, werde so glücklich als Du es verdienst, sei zum letzten Male gegrüßt und geküßt, und vergiß die Zeit, die trotz all ihrer Noth doch eine so glücklicke für mich war.

Mathilde.“ 

Reichardt blickte noch eine Weile sinnend in die Zeilen, er brachte den geschwundenen Tagen ein kurzes Todtenopfer. Dann aber rasch den Kopf hebend und mit hellen Augen vor sich, wie in eine sichtbare, sonnenbeglänzte Zukunft blickend, griff er nach seiner Geige, Alles was in ihm lebte, in der so lange entbehrten Zwiesprache mit den Klängen des Instruments ausströmend, und erst nach geraumer Zeit, als ihn ein frostiges Gefühl an seine kalte Stube mahnte, suchte er sein Bett.


Vier Wochen waren verstrichen, für Reichardt wie ein langer, heller Frühlingstag. Der alte Frost hatte mit jedem Tage mehr die unsichtbare Schranke, welche ihn trotz allen Wohlwollens von seinen Untergebenen trennte, fallen lassen und hielt den jungen Mann oft den größten Theil des Abends fest, sich in Gespräche über die verschiedensten Angelegenheiten des öffentlichen und geschäftlichen Lebens mit ihm vertiefend, oder sich bequem in den Lehnstuhl streckend, zu einer musikalischen Unterhaltung ermunternd. Mit einer ganz eigenthümlichen Befriedigung hatte Reichardt schon am zweiten Abend nach seinem Eintritt in die Familie in Margaret eine notenfeste Pianospielerin entdeckt, und am dritten Tage war seine Violine nach Frost’s Hause gewandert, wo sie von da ab ihren bleibenden Ruheplatz auf dem Piano fand. Trotz dieses engen Beisammenlebens aber war Margaret dem Deutschen äußerlich noch nicht um einen Zoll breit näher getreten, und nur ein innerliches gegenseitiges Verständniß schien ihrem Umgange mit jedem Tage eine größere Freiheit und Sicherheit zu geben; selbst als in der dritten und vierten Woche verschiedene Ball-Einladungen aus angesehenen Familien für Reichardt eintrafen, und er, eine

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_546.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2020)