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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

zu unterbrechen, machte; „aber es kann doch nichts Traurigeres für einen jungen warmblütigen Menschen geben, als aus reiner Berechnung einen Weg einzuschlagen, zu dem ihn nicht eine einzige Regung in seinem Innern treibt, den Heuchler zu machen und den frischen Jugendmuth sich abkaufen zu lassen. So sehr ich begreife, Mr. Bell, wie Männer von älteren Jahren sich der kirchlichen Richtung zuneigen können, so sehr widern mich doch junge Leute mit frommen Gebehrden und stillen Gesichtern an. Da haben Sie Alles, wie es in mir lebt, Sir, und habe ich mich vielleicht zu freimüthig ausgesprochen, so betrachten Sie es zugleich als Bürgschaft, daß Sie mich stets so nehmen dürfen, wie ich mich gebe.“

Der Cassirer hatte dem letzten Theile der Rede mit immer steifer gehobenem Kopfe zugehört. „Sie sind ein Deutscher – ich hätte daran denken sollen,“ erwiderte er jetzt, während ein Zug von Geringschätzung um seinen Mund zuckte; „es wird unter den jungen Deutschen, Turner oder wie sie sonst heißen mögen, überhaupt nichts auf Religion gegeben.“

Reichardt’s Backen färbten sich höher. „Ich habe immer angenommen, Sir, daß Religion und Kirche zwei verschiedene Begriffe sind, und bin ziemlich überzeugt, daß jeder denkende Mensch seine Religion in sich trägt, mag er auch zu keiner Kirche gehören,“ erwiderte er, sichtlich eine leichte Erregung unterdrückend, „und meine Religion, Mr. Bell, wenn sie auch nicht bei jeder Handlung oben auf schwimmt, hat mich bis jetzt noch nicht betrogen. Ich verachte Ihre Kirche durchaus nicht, Sir, und habe mir meine Gedanken darüber bereits gebildet – bei der unbeschränkten Freiheit und Unabhängigkeit, zu welcher die amerikanische Jugend erzogen wird, mag sie als nothwendiger Zügel wie zur Veredelung der Sitte vollkommen an ihrem Platze sein. Wir Deutschen aber sind, wenn wir hier herüber kommen, schon so gezügelt, daß wir keiner neuen Schranke bedürfen, um die friedsamsten Menschen abzugeben – und wenn Sie meine Bescheidenheit lobten, Sir,“ schloß er lächelnd, „so mögen Sie sie ruhig ebenfalls nur auf Rechnung des deutschen Charakters schreiben.“

„Ich denke, Sir, im Augenblicke haben Sie sich durchaus nicht genirt!“ sagte Bell, die Mundwinkel in die Höhe ziehend. „Es thut mir leid, nicht das für Sie thun zu können, was ich gern möchte,“ fuhr er, sich langsam erhebend, fort, „indessen kann das auf unser jetziges Verhältniß natürlich keinen Einfluß üben.“ Er sah nach der Uhr und wandte sich dann mit einem kalten „ich glaube, es wird Zeit für die Office sein!“ nach seinem Hute. Der Deutsche folgte seinem Beispiele, und Beide nahmen in derselben Schweigsamkeit, welche sie herbegleitet, ihren Weg nach dem Geschäftshause wieder zurück.

Das stattgefundene Gespräch hatte wohl nach Bell’s Aeußerung keinen Einfluß auf das Verhältniß zwischen ihm und Reichardt üben sollen. Dennoch fühlte der Letztere schon an demselben Nachmittage, wie ein ganz anderer Geist in dem Cassenzimmer zu wehen begann. Der Cassirer hatte sich immer kalt und gemessen gegen ihn benommen, aber seine Worte waren meist von einer höflichen Freundlichkeit begleitet gewesen. Jetzt indessen schien sein Gesicht stets von Stein zu werden und ein Ladestock in seinem Halse zu stecken, sobald sich der junge Clerk an ihn zu wenden hatte. Seine zur Verständigung unumgänglich nothwendigen Worte aber hätten, um ihren Zweck zu erreichen, nicht um eine Sylbe kürzer sein dürfen, und wo sonst die Arbeiten des Deutschen unbesehen bei Seite gelegt worden waren, da hatte jetzt Bell überall kleine Ergänzungen und Verbesserungen vorzunehmen. Es waren sämmtlich Dinge, über die sich kaum etwas hätte sagen lassen, selbst wenn Reichardt seiner Empfindung darüber hätte Worte geben wollen, und so nahm er sich vor, nichts von dem veränderten Benehmen des Cassirers zu bemerken und ruhig seine Pflicht fort zu thun. Trotzdem aber und wenn er sich auch vordemonstrirte, daß der Alte eben nur Clerk wie er selbst sei, von dem sein Schicksal am wenigsten abhänge, konnte er sich doch eines stillen Drucks, wie die Ahnung eines bevorstehenden Unglücks, nicht erwehren, und erst als gegen Abend der alte Frost durch das Zimmer schritt, bei ihm stehen blieb und mit einem halben Lächeln sagte, er habe gehört, daß Reichardt zu dem morgenden Truthahn eingeladen sei, und es werde ihn freuen, den jungen Mann einmal in seinem Hause zu sehen, ward es wieder völlig hell in seinem Innern. Er warf einen Seitenblick nach dem Cassirer hinüber, der mit dicht zusammengezogenen Brauen in seinen Papieren kramte. Dann aber ließ er den bunten Bildern, wie sie bei dem Gedanken an Margaret und den bevorstehenden Festabend in ihm auftauchten, freien Lauf, und Bell schien jetzt am wenigsten in der Stimmung zu sein, ihn darin zu stören.

Eine volle Stunde hatte Reichardt am andern Abend fertig für die Gesellschaft in seiner Wohnung dagesessen, ehe es Zeit zum Gehen war. Er hatte auf das Sorgfältigste Toilette gemacht, und dennoch war er viel zu früh damit fertig geworden. Er hatte die Zeit damit verbracht, sich zu stählen gegen den Eindruck, den er sich jetzt schon überkommen fühlte, wenn er sich dem Mädchen gegenüberstehend dachte, das, seit sie ihm zuerst entgegen getreten, wie ein stilles, süßes Bild in seinem Herzen gelebt hatte, und das er jetzt in dem ganzen Nimbus von Reichthum und Stellung wiedersehen sollte. Er machte sich endlich mit dem festen Vorsatze zum Gehen fertig, sich mit allen Kräften zu beherrschen, um sich nach keiner Seite hin eine Blöße zu geben, oder auch nur ahnen zu lassen, was in seinem Innern vorgehe – stand ihm doch wie ein Gespenst die Lächerlichkeit vor der Seele: der jüngste Clerk nach der Tochter des Hauses schmachtend! Dennoch, als er den Weg nach Frost’s Hause zurückgelegt hatte und die Thürklingel zog, war es ihm, als gehe er der Entscheidung seines ganzen Schicksals entgegen.

Eine hohe, erleuchtete Halle empfing ihn, als sich der Eingang aufthat, von deren Ende ihm helles Mädchengelächter entgegentönte. Der öffnende Diener nahm ihm, kaum daß er seinen Namen genannt, seine Umhüllung ab und führte ihn dem Geräusch zu nach einer der hintern Thüren, die er vor dem Angekommenen aufriß.

„Halloh, da ist Reichardt!“ klang diesem die Stimme John’s entgegen, welcher in der Mitte des großen, reichen Zimmers stand und soeben in irgend einer lustigen Erzählung unterbrochen zu sein schien; „nur herein und ganz sans gêne, wir sind en famille. wie Sie wissen!“ und Reichardt fühlte unter der Zwanglosigkeit der Aufforderung seine Selbst-Controle, die ihn einen Augenblick beim Oeffnen der Thür fast hatte verlassen wollen, zurückkehren. Er sah, als er eintrat und einen raschen Blick um sich warf, eine kleine, aus jungen Damen und jungen Elegants gemischte Gesellschaft, deren Augen sich sämmtlich nach ihm gewandt hatten, zerstreut im Zimmer umhersitzen, während er neben dem Kaminfeuer die Figur des alten Frost erkannte. John ließ ihm indessen zu keiner längeren Betrachtung Zeit. „Ladies und Gentlemen,“ rief er des Deutschen Hand ergreifend, „mein sehr lieber Freund Reichardt, den ich Ihrem besonderen Wohlwollen empfehle – und nun hier,“ fuhr er, sich gegen den Vorgestellten wendend, fort, „meine Schwester Margaret, die Sie ja wohl schon kennen –“ Reichardt sah eine leichte Gestalt sich erheben und stand mit zwei Schritten vor ihr. Er wußte, daß er jetzt vor Allem sich zusammenzuraffen hatte, und doch, als er in dieses liebe, milde Gesicht blickte, das bei seinem Näherkommen wie in heller, lächelnder Befriedigung aufleuchtete, als er ihre kleine weiche Hand faßte, die sie ihm nach amerikanischer Sitte entgegenstreckte, meinte er dem Gefühle des Glücks, welches in ihm aufwallte, kaum gebieten zu können. Er hörte ihre Bewillkommnungsworte, die so herzlich klangen, als stände er mit ihr auf völlig gleicher Stufe, und unwillkürlich bog er sich nieder, um ihre Hand zu küssen. Aber mit einem leichten Lachen entzog sie ihm ihre Finger. „Das ist europäische Sitte, die wir nicht verstehen, Sir!“ rief sie, und als Reichardt aufblickte, sah er ein hohes Roth über ihre Wangen gegossen, während ihre Augen nur unsicher die seinigen auszuhalten schienen – er fühlte das Blut in sein eigenes Gesicht steigen, und nur eine kräftige innere Anstrengung, hervorgerufen durch ein Gefühl von Gefahr, in welcher er schwebte, befreite ihn zum Theil von der ihn überkommenden Befangenheit. „Es ist der Ausdruck hoher Achtung gegen eine Dame,“ sagte er, sich leicht verbeugend, „und so mag ich nicht um Entschuldigung bitten, Miß Frost, selbst wenn ich angestoßen hätte!“ Er bemerkte noch, wie das frühere klare Lächeln auf ihr Gesicht zurückkehrte, dann sah er sich vor die übrigen Ladies geführt, er hörte Namen, um sie im nächsten Augenblicke wieder zu vergessen, und erst als ihm der alte Frost mit seinem wohlwollenden Lächeln die Hand drückte, erlangte er seine völlige Sicherheit wieder.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_452.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)