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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

nach dem Kupferschmied, „ich denke nicht, daß Jemand dieses Namens hier im Geschäft ist – o, warten Sie einmal!“ unterbrach er sich plötzlich, „das kann der Willy oder Billy sein, wie wir ihn nennen, und der ist gleich hier nebenan!“ Er wandte sich nach der Hinterthür und ließ dort ein lautes: „He, Bill, Billy!“ hinausklingen; Reichardt aber dachte zum ersten Male an die Möglichkeit, den Gesuchten hier nicht mehr zu treffen und dann wieder allein sich seinem Glücke oder Unglücke überlassen zu müssen – Schritte klangen hinter den Fässern her, und mit einer peinlichen Spannung sah er der Erscheinung des Herankommenden entgegen. Da tauchte ein theilweis geschwärztes Gesicht auf, das ihn einen Moment scharf ansah, sich dann aber zu einem Lachen verzog, das unter den schwarzen Flecken zur vollständigen Grimasse wurde. – „Halloh, der Professor! ’s ist bei Gott der Professor!“ rief es, aber erst als Reichardt seine Finger in dem Händedruck des Andern fühlte, erkannte er die bekannten Züge. „Wo zum Gewitter haben Sie denn gesteckt, daß man nicht die kleinste Spur von Ihnen hat finden können? Kommen Sie von außerhalb oder wollen Sie gehen?“ fuhr er, einen Blick auf die Reisetasche werfend, fort.

So wohl auch des „Kupferschmieds“ Willkommen dem jungen Manne gethan hatte, so kalt berührte ihn doch die Art der letzten Frage. Er hatte für ein halbes Leben Abenteuer durchgemacht, hatte sich endlich mit Sorgen und Opfern wieder nach New-York gerettet, und jetzt schien es kaum anders, als habe er den Freund zwei Tage lang beim Bier nicht gesehen. „Ich komme von einer weiten Reise, Meißner,“ sagte er, „und mein erster Gang war zu Ihnen, da ich zufällig Ihre Adresse erfahren – Sie haben jetzt wohl aber kaum Zeit, eine halbe Stunde mit mir nach irgend einem ruhigen Platze zu gehen?“

Der Andere warf einen kurzen forschenden Blick in Reichardt’s gedrücktes Auge. „Wenn Sie mich brauchen, so muß sich immer Zeit finden, ich dächte, so viel wüßten Sie,“ erwiderte er mit einem Händedruck, „warten Sie nur zwei Minuten, daß ich mir ein menschliches Aussehen geben und den nöthigen Bescheid sagen kann.“

Nach kurzer Zeit schritten Beide nach einem der nächstgelegenen Trinkkeller hinab, Meißner rief nach Bier und winkte dann seinem Begleiter nach einem Tische in der entlegensten Ecke. „Jetzt, Professor,“ sagte er, nachdem sich Beide niedergelassen, „wenn Sie nichts besonders Nothwendiges drängt, so beginnen Sie mit Ihrer Geschichte von dem Augenblicke an, der uns im Shakespare von einander trennte; ich habe manche Gründe zu vermuthen, daß ich Ihnen, wie früher bisweilen, ein Stückchen Moralpredigt werde halten müssen –“

„O, Sie deuten auf das Verhältniß zwischen Mathilde Heyer und mir,“ unterbrach ihn Reichardt; „Sie hatten es dem Agenten der Operngesellschaft in einer Weise dargestellt, daß ich in St. Louis den Menschen erstechen und dann flüchtig werden mußte –“

Meißner fuhr in die Höhe, als habe er sich auf eine Nadelspitze gesetzt, und starrte eine Secunde lang mit offenem Munde auf den Sprechenden. „Erstechen?“ rief er, blickte aber auch im nächsten Momente erschrocken in dem leeren Raum umher und drückte die Hand auf den Mund. „No, Professor,“ fuhr er mit gedämpftem Tone fort, „fangen Sie unser Gespräch nicht mit solchen Phantasien an!“

„Pure Wirklichkeit, Meißner, ich säße sonst nicht hier!“ erwiderte der Andere gedrückt, „ich wollte indessen erst später davon sprechen und Ihnen die Folgen zeigen, wenn man von einem Freunde lieber das Schlimme als das Gute glaubt –“

„Reichardt, ich will das Beste glauben, wenn Sie es verlangen, ich glaube es schon,“ drängte der Kupferschmied halblaut, „aber sagen Sie, daß Sie einen dummen Spaß gemacht haben!“

„Wir werden darauf kommen, und dann mögen Sie selbst urtheilen,“ enigegnete Reichardt in seiner frühern Weise, „Sie sollen Alles hören, was ich erlebt, wie ich jetzt stehe, und dann reden wir weiter.“ Er that einen langen Zug aus dem schäumenden Bierglase, während der Andere nur langsam und kopfschüttelnd seinem Beispiele folgte, und begann dann die Erzählung seiner Erlebnisse, von dem ersten Tage seines Boardinghauslebens an, schilderte das Fehlschlagen aller seiner Hoffnungen auf dem kaufmännischen Felde und dann Mathildens verunglückte Concertspeculation, erzählte, wie der Schmerz über den unerwarteten Fehlschlag das Mädchen an seine Brust geworfen, wie sie am andern Morgen verschwunden gewesen und er aus ihrem Briefe zum ersten Male ein tieferes Gefühl für den „Bruder“ errathen. Der Kupferschmied hatte die gedrängte Schilderung nur mit einzelnen, kurzen Kopfnicken begleitet; als aber der Redende jetzt eine kurze Pause machte, reichte er ihm mit einem Blicke der vollen Verständigung die Hand. Mit sichtlich erhöhtem Interesse verfolgte er nun Reichardt’s Berührung mit der amerikanischen Aristokratie, das sich entwickelnde Verhältniß zu Harriet, und der wechselnde Ausdruck seines Gesichts bildete die bezeichnendste Illustration zu allen später auf einander folgenden Scenen; in athemloser Spannung aber lauschte er Reichardt’s Verfolgung durch den Mob, seiner Flucht in Harriet’s Schlafzimmer, und als der Erzähler in sinkendem Tone des Mädchens Antrag und wie er diesen zurückgewiesen, berichtet, schlug der Zuhörer plötzlich auf den Tisch, daß beide Gläser in die Höhe sprangen. „Dacht’ ich’s doch!“ rief er erregt, „zu gewissenhaft, zu stolz um zuzugreifen, wenn ihm das Schicksal einen Braten vor die Nase hängt – hätte das auch in dem Verhältniß mit der Gnädigen vom Schiffe ahnen und meine natürlichen Vermuthungen fortlassen können. Sie werden wohl niemals zu etwas Rechtem in der Welt kommen, trotzdem Niemand mehr das Zeug dazu hätte, als gerade Sie, aber – nur laufen lassen, was sich nicht halten läßt, ich ändere’s doch nicht – heiliges Gewitter! so ein Mädchen und so eine Partie; warum denn nur unser Einem das Glück nicht einmal kommt!“

Reichardt hatte, ohne ein Wort zu äußern, den Sturm über sich ergehen lassen und nahm, als der Kupferschmied beide Arme kopfschüttelnd vor sich auf den Tisch legte, die Fortsetzung seiner Erzählung auf; aber nur verdrossen schien der Zuhörer den weiteren Ereignissen zu folgen und erst, als der letzte Act, der Streit mit dem Agenten und dessen tödtlicher Ausgang an die Reihe kam, zeigte sich sein volles Interesse wieder rege.

„Eine weitere Nachricht, daß der Mann wirklich todt ist, haben Sie also nicht?“ fragte er, als der Erzähler geschlossen, und sprang bei dessen Verneinung mit sichtlicher Erleichterung von seinem Stuhle. „Well, Professor,“ fuhr er, dicht an den Andern heran tretend, halblaut fort, „so sehe ich auch noch gar keinen Grund, weshalb er durchaus gestorben sein muß. Wir nehmen vorläufig das Beste von dem Unglück an, wie es jeder vernünftige Mensch thun würde, bis es sich anders zeigt, und sind um so mehr dazu berechtigt, als wir Beide nur die unschuldigen Ursachen waren.

Ich sage Ihnen, ich sehe den Menschen ganz genau auf seinen zwei Beinen herumgehen und sich freuen, daß Sie ihm so geschwind aus dem Wege gegangen sind – so!“ fuhr er laut fort, seinen Platz wieder einnehmend, „und nun gehen wir zu den andern nöthigen Dingen über. Frisches Bier!“ rief er und begann mit beiden Gläsern auf dem Tische zu trommeln, bis der „Barkeeper“ vom andern Ende des Raumes heransprungen war.

Reichardt lehnte sich, die Hand gegen die Stirn gedrückt, in seinen Stuhl und athmete leichter auf, als es seit einer Woche geschehen. Ob ihm das freie Aussprechen Luft gegeben, ob des Kupferschmieds aufgewecktes Wesen belebend auf ihn gewirkt, oder die bekannten New-Yorker Umgebungen ihren Einfluß übten, er wußte es nicht; seine Zukunft aber, so wenig Aussicht sie ihm auch zeigte, wollte ihm nicht halb so trostlos mehr erscheinen als noch vor wenigen Stunden.

„Ja, zu den andern nöthigen Dingen,“ begann er, als das Bier auf dem Tische stand, seine frühere Stellung wieder einnehmend. „Sie wissen jetzt meine ganze Lage, Meißner, und alles Zanken über meine Verfahrungsweise ändert nichts daran. Mein einziger Plan ist jetzt, den kleinen Musiker wieder aufzusuchen, der mir in Saratoga Beschäftigung geben wollte, oder, wenn er mich abweist, mich vorläufig nach einer Stelle in einem Trinklocale als Pianist oder Violinist umzuthun. Eine Geige allerdings muß ich mir wieder zu verschaffen suchen, aber das wird nicht zu den Unmöglichkeiten gehören. Wissen Sie etwas Anderes für mich, Meißner, so sagen Sie es.“

Der Angeredete stützte den Kopf in die linke Hand und malte mit der andern große Buchstaben aus dem verschütteten Bier auf den Tisch. „Meine Meinung ist,“ sagte er nach einer Weile, „daß aus dieser Art Musikanten-Geschichten niemals etwas Rechtes herauskommen kann. Ein gewöhnlicher Mensch wird dabei zu jeder andern Arbeit untauglich und stirbt wie er angefangen, und wen es vorwärts treibt, ohne daß er einen Weg dazu sieht, der wird aus Desperation liederlich. Ich kann Ihnen jeden Abend

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