Seite:Die Gartenlaube (1861) 331.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Da das Militärwesen des Kaisers Lieblingsfach war, so conferirte er natürlich mit keinem Minister so viel, wie mit dem Kriegsminister, und bei keiner Angelegenheit ging er so in alle Details ein, als in dieser. – Sein Auge – „l’oeil du Maître!“ – war hier auf eine bewundernswürdige Weise eingeübt, und man sagte in Petersburg, bei einer Parade entgehe dem Kaiser Nikolaus kein Knopf eines Soldaten. Fast täglich hielt er selbst die Revue einer Partie seiner Lieblings-Regimenter ab, und häufig stellte er im Laufe des Jahres ganz große Revuen an, bei denen er oft ganze Armeen an seinen scharf kritisirenden Blicken vorüberziehen ließ. Die Könige von Preußen haben sich zwar zuweilen eben so viel mit ihren Landtruppen zu thun gemacht, wie die Kaiser von Rußland mit den ihrigen. Allein sie haben dann doch wenigstens von Seiten des Meeres Ruhe gehabt. Nicht so der Kaiser Nikolaus, bei dem die Bildung einer großen Flotte eine Lieblingsidee war. Er hatte daher auf den salzigen Wogen eben so viel zu inspiciren und zu revidiren, wie auf dem Festlande, und er überwand häufig Sturm und Seekrankheit, um nachzusehen, wie die Sachen auf dem Wasser ständen.

Auch die Kirche, mit deren Angelegenheiten sich so viele andere Fürsten nicht befassen, haben die russischen Kaiser auf ihre eigenen Schultern genommen, indem sie sich auch auf diesem Gebiete zu Autokraten machten. Sogar jeder Pope wird daher von dem Kaiser an seinen Posten gestellt, und so wie alle Ukase, so muß er auch alle Bullen selbst durchdenken und unterschreiben, was man in andern Ländern doch den Päpsten, Synoden und Consistorien überläßt.

Die russischen Beamten verstehen sich in der Regel nur auf das Detail-Regiment. Sie haben nicht das Talent zu generalisiren und die leitenden Ideen und den Geist einer Maßregel zu ergreifen und bei der Ausführung zu wahren. Diese nationale Eigenheit seiner russischen Rathgeber vermehrte die Geschäfte des Kaisers Nikolaus noch in hohem Grade, so daß er sich oft nicht zu retten wußte vor allen den kleinen minutiösen Angelegenheiten und Fällen, die seine Minister ihm zur Entscheidung vorbrachten. Ein russischer Herr, der den Kaiser Alexander kannte, sagte mir in dieser Beziehung, daß dieser Kaiser von der Conferenz mit seinen russischen Ministern immer höchst mißgestimmt zurückgehrt sei, weil sie ihm eine zahllose Menge von Kleinigkeiten und eine solche Masse von Details und einzelnen Fällen vorgelegt hätten, daß er des Stoffs zuweilen nicht hätte mächtig werden können. Die polnischen Minister dagegen hätten es viel besser verstanden mit ihm zu arbeiten. Sie hätten seine Meinung und Idee leichter gefaßt, wären überhaupt politisch durchgebildeter gewesen und hätten den Kaiser nicht mit so vielen Bagatellen behelligt. Daher sei Alexander auch immer heiter und vergnügt aus den Conferenzen mit den Polen hervorgegangen.

Außer diesem Allen hatte nun der Kaiser Nikolaus noch das Haus voll von Kindern, Söhnen, Töchtern und Schwiegersöhnen, Brüdern, Schwägerinnen und Nichten. Da er in weit höherem Grade das Haupt seiner Familie war, als ein simpler Privatmann, so gaben ihm auch schon die Angelegenheiten seines Hauses, die er, wie die Staatsaffairen, in allen ihren Details selbst lenkte und leitete, mehr zu thun. Er hat im Innern seines Hauses Alles verrichtet, was die gewöhnlichsten Familienvater zu thun pflegen. Er hat seine Kinder in Person gestraft, er hat sich bei Nacht selbst wie eine sorgsame Mutter vom Lager erhoben und ihren Schlaf belauscht. Er hat seine Söhne selbst spät Abends besucht, um nachzusehen, ob sie zur festgesetzten Zeit zu Bette gegangen waren, und ob ihre Gouverneure vorschriftsmäßig bei ihnen schliefen.

Hört man bei aller dieser ganzen Masse von Geschäften, die auf den Schultern des Kaisers lasteten, nun noch von neuen Erfindungen in Petersburg, deren Urheber daraus hofften, daß der Kaiser einmal zu ihnen kommen würde, um von ihren Kunstprodukten Notiz zu nehmen, – hört man ferner, daß der Kaiser sich zuletzt entschloß, sogar auch noch die Pässe seiner Unterthanen in’s Ausland selbst auszustellen und zu unterschreiben, – bedenkt man, daß er es nicht selten für seine Pflicht hielt, einige seiner vornehmen Unterthanen mit Artigkeitsbesuchen zu beehren, – daß er oft bei alten kranken Damen vorfuhr, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, – daß er um Ostern sogar die Schildwachen seines Palastes um ihr Wohlsein befragte und ein paar Dutzend von ihnen, einem alten Herkommen gemäß, abküßte, – erinnert man sich endlich, wie viele Pflichten ihm neben der Regierung und Leitung seines Staates auch das bloße leere Hofceremoniell auferlegte, wie viele Gesandten europäischer und asiatischer Fürsten er beständig zu empfangen hatte, – erinnert man sich, daß er sehr oft von den in seinem Lande anwesenden „Fremden von Distinction“ Notiz nahm und sie zuweilen selbst auf das Eigenthümliche seines Volks und Reichs aufmerksam machte, – ja, daß er mitunter sogar aus fernen Gegenden seines Reichs herangereiste Bauern in den Zimmern seines Palastes herumgeführt hat, – erwägt man, daß er sich auch von allen Ereignissen in entfernten Ländern und Welttheilen unterrichtete, daß er mit aufmerksamem Auge die Politik aller Könige und Fürsten Europa’s, Asiens und Afrika’s überwachte, und daß er einige Beamte in seiner Nähe hatte, welche ihm über die Tagesereignisse aus den Zeitungen berichten mußten, ja, daß er sogar von einzelnen Journalartikeln oft selbst specielle Kenntniß nahm, – vergißt man endlich nicht, daß er nicht nur selbst zuweilen brillante Hoffeste veranstaltete, an denen er den lebhaftesten persönlichen Antheil nahm, und bei denen immer die wichtigste und schwierigste Rolle ihm, dem Wirthe, zufiel, – daß er auf diesen Hoffesten selbst eifrig tanzte, – daß er, wenn es Maskenbälle waren, sich auch einen Domino anlegte, daß er auch oft die Tanz- und Freudenfeste seiner Großen und seines Volks besuchte, daß er häufiger als irgend ein anderer europäischer Fürst Einladungen zu den Bällen bei seinen reichen Unterthanen annahm, – daß er nicht versäumte, sich bei den „Gulanien“ (Spazierfahrten), welche um Ostern und bei andern Gelegenheiten in den russischen Städten statt zu finden pflegen, öffentlich zu zeigen und unter die Leute zu mischen, – daß er nicht vergaß, bei allen großen Nationalfesten und öffentlichen Gelegenheiten aus allen Ständen und Volksclassen Einige auszusuchen, um an sie ein freundliches Wort zu richten; – überschaut man, sage ich, dies Alles: so bekommt man in der That das Bild von einer riesenhaften Thätigkeit, die kaum irgendwo wieder ihres Gleichen zu finden scheint; – und man fragt erstaunt, wie es möglich war, daß Jemand dreißig Jahre hindurch ein solches physische wie moralische Kräfte auf gleiche Weise aufreibendes Leben ertragen konnte.

Hätte Kaiser Nikolaus auf seine Autokratenwürde verzichten wollen oder können, so hätte er ein viel sorgenloseres, genußreicheres und bequemeres Leben führen mögen, als er es auf seiner schwindelnden Höhe konnte, wo er, um sich auf dem Platze zu behaupten, in ein Meer von rastloser Arbeit, Unruhe und Sorgen gestürzt war.

Er gewährte das Schauspiel eines Schiffers, der in jedem Augenblicke wachen mußte, der das Ruder nicht einen Moment aus der Hand geben durfte, der alle Segel und Taue stets in Bereitschaft und in Spannung erhalten mußte, weil in jeder Minute der Fahrlässigkeit der Sturm losbrechen konnte.

Zum Theil, sage ich, liegt die Ueberspannung der Thätigkeit der Czaren in der Natur ihrer autokratischen Gewalt und ist aus dieser von selbst hervorgegangen. Zum Theil aber ist ihnen der Impuls dazu von jenem großen Muster und Beispiele der Czaren, von Peter dem Großen, in dessen Bahnen sich Alles in Rußland bewegt, und in dessen Fußstapfen noch jetzt, selbst ohne daß sie es wollen und wissen, die Nikolaus und Alexander und Paul wandeln, gegeben worden. [1]



  1. Wie Friedrich der Große das Ideal der preußischen Regenten, so ist Peter der Große das Ideal der russischen Kaiser, und mit ihm verglichen zu werden, haben die meisten seiner Nachfolger ambitionirt. Katharina stellte sich immer Petern zur Seite und betrachtete sich als die Vollenderin dessen, was er angefangen hatte. Auch Nikolaus, glaube ich, hielt sich für eine neue Auflage Peter’s des Großen für das Jahrhundert. Deshalb hörte er auch Peter’s Lob gern, besonders wenn es von Anspielungen und Vergleichen mit ihm selber begleitet war. Ich traf im Innern von Rußland einen russischen Historiographen, der sich mit einer Geschichte Peter’s des Großen beschäftigte. Ich weiß nicht, ob er sie publicirt hat, aber ich glaube, das es dabei mehr auf einen Panegyrikus für den jetzt lebenden, als für den längst verstorbenen Kaiser abgesehen war.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_331.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)