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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

In der That, man hätte diesem Kaiser von Rußland fast Allgegenwart in seinem Reiche zuschreiben mögen, und so weit als ein Mensch diese Eigenschaft besitzen kann, so weit besaß er sie in der That. Es war keine Anstalt, keine Behörde, kein Institut in Petersburg, das nicht in jedem Augenblicke sein beobachtendes Auge zu fürchten gehabt hätte. Niemand war dort vor seinen Blicken sicher. Es gab Institute, zu denen er innerhalb Jahresfrist nicht kam. Allein die Möglichkeit, daß seine Droschke doch einmal unangemeldet vorfahren könne, hielt die Leute stets in Spannung.

Der Kaiser hat sich selbst mehrere Male darüber beklagt, daß er auf seinem Throne so allein stehe, daß er keine redlichen Gehülfen habe. Es war dies die natürliche Folge seines Vielregierens. In einem Lande, in welchem kein Gemeingeist existirt, wo Alles nur kaiserlich ist und für des Kaisers Rechnung und auf des Kaisers Impuls geschieht, ist auch Niemand für das Gemeinwesen interessirt. Der Kaiser mußte Alles selbst thun, und es lastete daher ein enormes Gewicht von Geschäften auf seinen Schultern. Wohin er mit seinem Auge und seiner Hand nicht kam, da schlummerte und feierte die Staatsmaschinerie.

Mir sagte einmal ein hochgestellter russischer Staatsbeamter, den ich über einen Punkt der russischen Statistik befragte, er könne mir auf meine Frage keine Antwort geben, auch kenne er nur Einen in ganz Rußland, der diese Antwort zu geben im Stande sei: das wäre der Kaiser; der Kaiser allein wisse genau über alle russischen Angelegenheiten die Wahrheit, oder wenigstens er allein könne genau die Wahrheit wissen, da in ihm sich alle Fäden concentrirten, und da bei ihm allein alle die Quellen, aus denen man die Statistik Rußlands schöpfen müsse, zusammen flössen.

Kaiser Nikolaus nannte sich mit vollem Recht einen Selbstherrscher, ein Name, auf den er stolz war, der ihm zugleich aber auch erstaunlich viel Sorge und Last aufbürdete.

Nichts ging in Rußland von selbst. Der Kaiser war die riesenmäßige Triebfeder, die jedes Rad in Schwung setzte. So wie diese Triebfeder an Energie verlor, so gerieth auch das Uebrige in Stocken. Er mußte jeden Tag die Uhr aufziehen und mußte selbst alle seine Staatshausgeräthe stündlich putzen und ausstäuben. Daher diese täglichen und nie endenden Revuen seiner Truppen, daher diese fortwährenden Inspektionen aller Staats-Anstalten. Daher diese unermüdlichen Fahrten auf einspännigem Schlitten oder auf einer kleinen Droschke, mit der er wie ein Blitz durch die Straßen seiner Residenz eilte, und bald dieses, bald jenes Etablissement, bald diesen, bald jenen Privatmann oder Beamten mit seinem Besuche überraschte. – Daher sein stets waches Auge, mit dem er unterwegs Alles, selbst das Geringfügigste beachtete, den Officier, der seinen Hut nicht vorschriftsmäßig sitzen hatte, und der einen Knopf zu wenig an seiner Uniform zuknöpfte, den Professor, der gegen die Gesetze an einem Festtage der Universität sich öffentlich in gewöhnlicher Civilkleidung statt in seiner vorgeschriebenen Beamten-Uniform zeigte, und den der Kaiser wohl gar selbst auf seine Droschke nahm, um ihn auf die Hauptwache zu bringen, oder der doch auf seinen persönlich gegebenen Befehl arretirt wurde.

Wie der Kaiser alle seine Untergebenen stets im Auge behielt, so umgekehrt hatten freilich auch alle seine Beamten ihn fortwährend im Auge und blickten und horchten mit gespannter Aufmerksamkeit nach ihm hinüber, um seine Bewegungen und Pläne auszuspähen und zu erfahren, was er von ihnen wohl denken und was er in Bezug auf sie etwa vorhaben möchte.

Dem Kaiser Nikolaus war jenes Ueberraschungssystem am Ende ganz und gar zur Gewohnheit geworden, und er wendete es dann selbst auf seine Reisen in’s Ausland an, wo er auch oft eben so unerwartet erschienen und wieder verschwunden ist. Er setzte sich plötzlich in ein kleines Schiff, fuhr nach Schweden hinüber und umarmte den alten König dieses Nachbarlandes, der eher den Einsturz des Himmels als den Besuch des Kaisers von Rußland erwartet hätte. In ein paar Mal 24 Stunden war er wieder in seiner Residenz zurück. So unerwartet wie in Stockholm erschien er in Wien, wohin er von Böhmen aus in wenigen Stunden eilte, um dort einige fürstliche Personen zu besuchen.

Ich saß einst in Berlin in einem freundlichen Kaffeehause unter den Linden, westeuropäische Zeitungen lesend. Ich las von Guizot und Thiers und dachte nicht mit einem Gedanken an den Beherrscher des Nordens. Ich blickte vom Blatte auf, und welche imposante Figur rauschte ganz dicht neben mir vorüber? Es war der Kaiser Nikolaus von Rußland, der allmächtige Czar, der zu Fuß aus seinem Hotel kam, um einen preußischen Prinzen zu besuchen, dann auf der Eisenbahn auf einige Augenblicke zum Könige, einem Schwager, zu fahren, und von da auf Windesflügeln nach England zu eilen. In England war man in der gespanntesten Erwartung, ob er kommen würde oder nicht. Niemand war darüber im Klaren, die Königin und Prinz Albert in der peinlichsten Ungewißheit. Und als er wirklich erschienen, war er auch bald so rasch wieder fort, daß John Bull kaum Zeit genug hatte, sich zu besinnen, wie er den großen Potentaten aufnehmen solle. Derselbe hatte bereits Holland und Deutschland durchflogen, und war schon in seiner nordischen Residenz wieder angelangt, während manche langsame deutsche Journale sich noch darüber stritten, auf welchem Wege „Er“ wohl wieder in sein Reich zurückkehren möchte.

Ich sage, zum Theil mochten diese blitzschnellen Ueberraschungsreisen nur eine Gewohnheit sein, die der Kaiser als Autokrat in seinem eigenen Lande angenommen hatte, und die er dann auf’s Ausland übertrug. Zum Theil aber war auch dabei Berechnung und Politik. Der Kaiser hatte manche persönliche Feinde im Auslande, und es war nicht immer gut, daß sie, sowie auch das ganze Publicum, zu genau von der Zeit und Stunde, zu welcher er auf jeder Station einzutreffen gedachte, unterrichtet seien.

Die vielseitige Thätigkeit des Kaisers Nikolaus ist mir immer ein wahres Wunder gewesen. Er war seiner Zeit der beschäftigtste aller Potentaten von Europa. Der hundertste Theil von seinen Verrichtungen, so scheint es, wäre hinreichend gewesen, einem gewöhnlichen Menschen vollauf zu thun zu geben.

Es mußte eine eiserne Constitution, ein stählerner Wille, eine unerschöpfliche Kraft dazu gehören, um den mannigfaltigen Ansprüchen zu genügen, welche man an ihn machte, oder die er sich selber auflud. Die beste Idee wird man davon bekommen, wenn man bedenkt, wie viel das Wort, das Ludwig XIV. aussprach, und das in vollem Maße auf den Beherrscher Rußlands paßte, sagen will, das berühmte Wort: „L’état c’est moi.“

Nach einer in Rußland selbst angefertigten Aufzählung hat der Kaiser Nikolaus blos in den ersten 6½ Jahren seiner Regierung nicht weniger als 5073 Gesetze (Ukase, Manifeste, Instructionen) erlassen. Dies giebt also für jedes Jahr beinahe tausend Erlasse, oder für jeden Tag drei, und unter diesen Erlassen waren viele äußerst paragraphenreich.[1] Bedenkt man nun, daß jedes Gesetz eine Reihe von Bestimmungen enthielt, durch welche Tausende von Fällen entschieden und regulirt, Millionen von Menschen gebunden werden sollten, so kann man ermessen, welche Masse von Vorarbeiten dazu erforderlich war. Man lese nur einmal die Verhandlungen des englischen Parlaments und die Discussionen, Interpretationen und Commentationen der englischen Journale zu den vorgeschlagenen Gesetzen, um zu begreifen, wie vielseitig solche Gesetze sind, in denen jedes Wörtchen erwogen werden muß, und man wundere sich nun über die Thätigkeit eines Selbstherrschers, in dessen Kopfe und Cabinete Alles das vor sich gehen soll, was dort im Parlamente, in zahllosen Vereinen und den Journalen vor sich geht.

  1. So viele Gesetze, wie der Kaiser Nikolaus, hat noch kein russischer Herrscher erlassen, wie aus folgender Tabelle ersichtlich ist, die in Rußland selbst angefertigt wurde und dem „Swod Sakannow“ (Gesetz-Codex) entnommen ist.
    Der Czar Alexei gab während einer Regierung
    von 27 Jahren 648 Ukase, jedes Jahr circa 24.
    Der Czar Feodor
    295      46.
    Die Czaren Iwan und Peter gemeinschaftlich 13¾
    623      39.
    Der Czar Peter I. 29
    3110      100.
    Die Czarin Katharina I. 22/3
    428      160.
    Der Czar Peter II. 21/3
    428      180.
    Die Czarin Anna 10¾
    2767      260.
    Die Czarin Elisabeth 20
    3110      125.
    Der Czar Peter III. ½
    192      384.
    Die Czarin Katharina II. 33½
    5957      180.
    Der Czar Alexander I. 242/3
    11,119      450.
    Der Czar Nikolaus während der ersten 61/2
    5073      850.

    Die Ukasenfluth ist also in einer viel größeren Proportion angeschwollen als die Größe des Reichs und die Zahl seiner Einwohner. Die Zahl der Einwohner wuchs von Alexei’s Zeiten her von 5 auf 60 Millionen oder auf das Zwölffache, die Zahl der jährlich publicirten Ukase von 24 auf 850, oder auf das Fünfunddreißigfache.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_329.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)