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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

aller Völker, furchtlos herausforderten zum Kampfe! Leopold Heinrich von Wedell wurde ein Officier Schill’s. Aber schon in dem ersten Gefecht, bei Dodendorf unweit Magdeburg, wo Schill die französisch-westphälischen Truppen trotz ihrer Uebermacht sprengte und in die Flucht jagte, hatte Wedell das Unglück gefangen zu werden. Er hatte sich verzweifelt gewehrt, er blutete schon aus mehreren Wunden, aber erst eine Kugel, welche er in die linke Hüfte erhielt, streckte ihn nieder und gab ihn in die Hände seiner Feinde, welche den Schwerverwundeten über Magdeburg und Kassel nach Montmedy schleppten. Im Gefängniß zu Kassel sah er seinen treuen Freund, den Obersten Emmerich, der drei Tage nachher auf Napoleons Befehl erschossen wurde. Im Gefängniß zu Montmedy sah er seine elf Cameraden, die elf Andern, die zu Wesel erschossen wurden; ihn, den Zwölften, schickte der große Zwingherr nach Cherbourg an die Karre!

Er ward vielfach bevorzugt in Cherbourg, der tapfere Wedell, an sich selbst erfuhr er des französischen Kaisers höllische Großmuth im reichsten Maße, denn er wurde nach seiner Ankunft im Bagno nicht gebrandmarkt, ihm wurden weder die zwei, noch die drei verhängnißvollen Buchstaben[1] auf die Schulter gebrannt.

Freilich erhalten nur Räuber und Mörder diese entehrende Brandmarke, aber der große Kaiser, der die Elf zu Wesel wegen Straßenraub hinrichten ließ, der konnte ja auch den Zwölften zu Cherbourg wegen Straßenraub brandmarken lassen! Wer hätte ihn daran hindern können? Reine Großmuth, daß es nicht geschah, bonapartische Großmuth!

Nicht allein befand sich Wedell unter den französischen Mördern, Giftmischern und Spitzbuben; o nein, er fand dort zahlreiche deutsche Gesellschaft, brave Soldaten und patriotische Ehrenmänner genug, die dort an Kette und Karre zogen! So Mancher, der damals spurlos verschwand aus dem deutschen Vaterland, den Weib und Kind und Freunde nimmermehr wiedersahen, er wäre zu jener Zeit in Cherbourg nicht vergebens gesucht worden, 1813 freilich moderten seine Gebeine schon längst in den großen allgemeinen Begräbnißgruben hinter dem Fort Roucoulles.

Einen von den deutschen Landsleuten gab man dem Lieutenant von Wedell zum Genossen an der Kette, man schmiedete ihn zusammen mit einem Kriegs- und Unglücksgefährten, mit einem gefangenen Schill’schen Unterofficier. Das ist der Bärtige, der so parademäßig straff neben dem bleichen Jüngling an der Karre steht. Die bonapartische Großmuth gab ihm einen Genossen im Leiden!


3.

Wenn die Galerensclaven am Morgen zur Arbeit mußten, dann wurden sie auf dem Wege zum Kaiser-Bassin durch die Hafenstraße „getrieben“ von ihren Aufsehern. Die getriebene Heerde zog regelmäßig auf der einen Seite der Hafenstraße hinaus und kehrte auf der andern zurück. Auf dem Rückwege war die Aufsicht der Treiber lässiger, man vergönnte den Getriebenen, die von der Arbeit meist völlig erschöpft waren, einige Nachsicht, man ließ sie so langsam gehen, als sie mochten, überzeugt, daß sie sich wenigstens so viel beeilen würden, um die karge Abend-Ration im Bagno noch zu empfangen; an eine Flucht dachte Niemand, eine solche war, wenn auch nicht unmöglich, so doch völlig nutzlos, da die Wiederergreifung unvermeidlich.

Seit einiger Zeit schon waren Wedell und sein Unglücksgefährte, der Schill’sche Unterofficier, immer die Letzten beim Heimzuge in die Stadt; waren sie die Erschöpftesten? Benutzten sie diese Minuten ungestörten Beisammenseins, um vom Vaterlande und ihren Lieben in der Heimath zu reden? oder hatten sie einen andern Grund?

In der Hafenstraße zu Cherbourg, gerade an der Ecke der Seilergasse, steht ein alterthümlich stattliches Haus mit vorspringendem Erker im ersten Gestock und einer Wetterfahne darauf. In diesem Hause wohnte ein alter Herr, Namens de Lachétardie, ein höherer Beamter der Hafenverwaltung von Cherbourg, mit seiner Familie, welche aus einer schon verwittweten Tochter mit mehrern Kindern bestand.

An einem der Fenster zu ebener Erde in dem alterthümlichen Hause blieb das letzte Paar der Galeerensträflinge regelmäßig stehen beim Heimzuge und ruhete dort einige Augenblicke. Anfänglich mochte das Niemandem auffallen, nach und nach aber wurde es doch bemerkt; zuerst durch die Kinder des Hauses, welche sich vor dem bleichen Gesicht fürchteten, mit welchem der junge Galeerensträfling jeden Abend durch das Fenster hereinstierte in das große Gemach, in dem sie ihre Spiele trieben. Nach und nach gewöhnten sich die kleinen Mädchen an das bleiche Gesicht Wedell’s sowohl wie an das bärtige seines Begleiters. Bald warteten sie auf „ihre“ Galeerensclaven, wurden unmuthig, wenn diese zu lange auf sich warten ließen; und sie öffneten endlich das Fenster, um kurz und gut mit ihnen zu plauderten. Es konnte nicht fehlen, daß die Mutter der kleinen Mädchen bald Kunde von der Freundschaft erhielt, welche ihre Töchter mit zwei Galeerensträflingen geschlossen; der guten Dame war die Sache bedenklich, sie examinirte gar scharf und erfuhr, daß der bleiche Mann Henri heiße, der spreche niemals ein Wort mit ihnen, sondern blicke nur nach dem großen alten Bilde an der Wand mit seinen schönen, traurigen blauen Augen und gehe dann seufzend weiter; der Andere aber mit dem großen Rothbart heiße Frédéric, der sei lange so traurig nicht wie sein Gefährte, der spreche mit ihnen ein Wenig, nenne sie „mamselles“, was sehr komisch klinge, und esse alle Butterbröde und alle Aepfel, die sie ihm gegeben.

So lauteten die Mittheilungen der Kinder.

Die Mutter beschloß noch am selben Tage die Sträflinge zu erwarten und sie zu beobachten, denn trotz der scheinbaren Unverfänglichkeit war die gute Frau nicht ganz ohne Sorge; konnten die Gesellen nicht die Gelegenheit zu einem Diebstahl auskundschaften wollen?

Und an demselben Abend zogen die Unglücklichen wie gewöhnlich in langer Reihe an den Fenstern vorüber, hinter welchem die Kinder standen; endlich kam das letzte Paar, der Schill’sche Lieutenant und sein Unterofficier. Wedell nickte den Kindern traurig, aber freundlich zu, lehnte sich an den Sims und schaute auf ein ziemlich großes Oelbild in ovalem Goldrahmen, welches an der Seitenwand hing und eine Dame in ganz alterthümlicher Tracht und seltsamem Kopfputz darstellte. Es war eine Verwandte der Familie, gegen Ende des 17. Jahrhunderts gemalt und in der Tracht jener Zeit, übrigens sichtlich ein werthvolles Bild von der Hand eines Meisters.

Die kleinen Mädchen reichten ihrem bärtigen Freunde Frédéric ihre Butterbrödchen, dieser stammelte sein: „merci, petite mamselle!“ und nickte gutmüthig zu allen Fragen, welche die Kinder reichlich an ihn richteten, weil er offenbar keine derselben verstand. Die Mutter, die sich anfänglich in dem Hintergrunde gehalten und sofort erkannt hatte, daß die Beiden keine Verbrecher, sondern unglückliche fremde Kriegsgefangene waren, trat jetzt hervor und fragte, sich an Wedell wendend, dessen jugendliche Erscheinung sie gerührt haben mochte: „Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?“

Der Lieutenant, aufgeschreckt aus der Betrachtung des Bildes, verneigte sich leicht vor der plötzlich hervortretenden Dame und zog sich mit einem leisen: „pardon, Madame!“ zurück, indem er mit seinem Genossen sofort weiter schritt.

Betroffen stand die Dame, denn die Art, wie der Galeerensträfling seine Entschuldigung machte, seine Verneigung, sein rasches Zurückziehen endlich gaben ihr die Ueberzeugung, daß dieser junge Mann die beste Erziehung genossen haben müsse; sie war von dem Augenblick an in ihrem milden Herzen fest entschlossen, die traurige Lage desselben nach Kräften zu erleichtern.

Am andern Abend harrten Mutter und Töchter in gleicher Spannung beinahe ihrer Freunde an der Kette, dieselben erschienen auch und wie gewöhnlich zuletzt, gingen aber an dem Fenster vorüber, wobei Wedell nach der andern Seite der Straße blickte, während Frédéric nicht umhin konnte, seinen kleinen Freundinnen wehmüthig zuzunicken. Wir lassen dahingestellt sein, wieviel von der Wehmuth des braven Schill’schen Unterofficiers auf die Butterbröde kam, welche die „petites mamselles“ für ihn bereit hielten. Die kleinen Französinnen waren übrigens auch keineswegs gesonnen, sich in ihrem Verkehr mit den Fremden ohne Weiteres stören zu lassen, sie schalten und weinten und waren höchst unartig gegen ihre Mama, indem sie, nicht ohne Grund, behaupteten, daß deren Erscheinung allein ihre Freunde gestern gestört, heute aber verhindert habe, an das Fenster zu treten und sich mit ihnen zu unterhalten. Madame Noirot hatte Mühe, die Ungezogenen zu beruhigen, sie vertröstete dieselben auf den folgenden Abend.

Am folgenden Abend aber gingen die beiden Schill’schen nicht

  1. T. F., d. i. Travaux Forcés, Zwangsarbeit. GAL., d. i. Galérien, Galeerensträfling.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_307.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)