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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

hervorzurufen, daß es unter Kindern bei ihrer geistigen Unreife doppelt leicht, darum aber eben doppelt unzulässig erscheinen muß, solche Dinge zu erregen, und daß bei dem allgemeinen Bildungsstandpunkte und der religiösen Stellung so mancher Anstaltsbrüder eine doppelt große Gefahr und Versuchung darin liegt, in solchen Erscheinungen in ihrer Anstalt eine besondere Auszeichnung und Verdienstlichkeit um das Reich Gottes suchen und finden zu wollen … Ein gemachtes, unrichtiges Wesen zeigt sich vom Januar an, an dessen Abend Klug, der Waisenhausvorsteher, den Knaben Schmitz auf der Treppe sitzend und laut um Vergebung seiner Sünden schreiend fand. Statt denselben sofort in aller Stille in sein Kämmerlein zu führen, ihn dort zu trösten und mit ihm zu beten, zeigte ihn Klug erst den andern Knaben als nachahmenswerthes Beispiel … Das war gefährlich und wirkte nur allzu rasch, indem selbigen Tags schon die Unordnung eintrat, als Verlegung des Schauspiels von der Treppe in den Keller, wo vier Knaben um Erbarmen schreiend gefunden wurden … Durch alle auffallenden Erscheinungen ließ sich Klug nur desto mehr im allabendlichen Halten außerordentlicher Gebetsversammlungen bestärken; … kurz alle Ordnung und Regel des Hauses war gestört, und Niemand scheint das für unschicklich gehalten und an ihre Herstellung gedacht zu haben … Am Dienstag, 5. Februar, ging nun die Sache in’s Große. Nachdem Klug mit Knaben und Mädchen gebetet hatte, traten die bisher einzeln vorgekommenen körperlichen Affectionen massenhaft auf; ein Kind nach dem andern wurde ergriffen von einer „göttlichen Traurigkeit“, wie der Bericht sagt, brach zusammen etc. 40 bis 50 Kinder wurden in kurzer Zeit von Krämpfen erfaßt, oft plötzlich ohne unmittelbare äußere Einwirkung, oft nachdem von andern Kindern gerade speciell für sie um den Geist gebetet worden … Mit Bewußtsein, aber sprachlos lagen dabei die Kinder da, schrieen, jammerten, wälzten sich umher und bewegten den Kopf so sehr, daß, um Verletzungen zu verhüten, die Kopfkissen in die Höhe gezogen werden mußten. Dieser Zustand, der wirklich mehr an die Besessenen zur Zeit Christi, als an ein Einwohnen und Einwirken des heiligen Geistes erinnert, war von verschiedener Dauer … Hiernach ist wohl klar, daß den Vorsteher Klug mit Recht der Vorwurf trifft, alle Hausordnung vergessen und die regellosesten, für Leib und Seele der Kinder bedenklichsten Erscheinungen und Zustände absichtlich befördert zu haben … Grafe scheint von Anfang an das Bedenkliche und Gefährliche, was in dem unordentlichen Wesen und den leiblichen Affectionen lag, nicht gespürt zu haben, sondern hat die Sache nur mit der größten Freude verfolgt. Selbst der Hausarzt ist erst in letzter Zeit, als am 23. Februar noch zwei Kinder von Krämpfen befallen wurden, darauf gekommen, die doch mindestens höchst überflüssige und gefährliche Affection zu hemmen durch das einfache Mittel, ihnen kaltes Wasser in’s Gesicht zu gießen. Auch in einer Elberfelder Elementarschule hat der Lehrer einen Knaben, der sich winselnd und klagend über das Pult legte und der Weisung, gerade zu sitzen, nicht folgte, indem er von heftigem Gebetsdrange sprach, mit entschiedener Züchtigung zur Ordnung gebracht.“

Rühmend muß es anerkannt werden, daß die städtischen Behörden gegen die Partei, deren unseligem Einflusse wir das Geschehene zu verdanken haben, mit Entschiedenheit Front machten und mit Ernst und Eifer den Kampf mit derselben aufnahmen. Der Oberbürgermeister der Stadt leitete die Untersuchung ein, vernahm die Angestellten und sonstigen Angehörigen des Waisenhauses. Er erstattete dem Gemeinderath hierüber umständlichen Bericht, welcher alles Obige in erhöhtem Maße bestätigte. Die Vorgänge, wenn ein Knabe den andern bekehrte, hatte Grafe dahin geschildert, daß der schon angefaßte Knabe ausrief: „Herr, fasse ihn, wirf ihn nieder, schlag ihn nieder!“ etc.; und Grafe fügte hinzu, daß, wenn dies ein- oder mehrere Mal geschehen sei, der betreffende Knabe wirklich, von Seelenangst ergriffen, niedergefallen sei. Der Zustand der in Krämpfen liegenden Kinder wurde von den Beamten genau so beschrieben, wie es oben dargestellt ist. Ein Knabe war in zwei Tagen nur eine Stunde lang der Sprache mächtig gewesen; manche Kinder wurden dann nur einmal, andere zwei oder drei Tage nach einander erfaßt. Einer der Knaben theilte dem Oberbürgermeister im Tone unnatürlicher Erregung und unaufgefordert mit, was sie gebetet hätten; es begann damit: „daß der Herr ihnen den Schild des Glaubens geben wolle, um damit die feurigen Pfeile des Satans auszulöschen“ etc. Kluge gestand ein, er habe der Bewegung gegenüber nichts gethan, was die Kinder wieder zu einem ruhigen, nüchternen, ordnungsmäßigen Wesen zurückführen konnte; in dem Hause sei eine unmittelbare That Gottes geschehen, welcher zu widerstreben er für ein Verbrechen gehalten haben würde; er habe die Vorgänge mit Freuden gesehen und freue sich noch jetzt daran; denn er sei überzeugt, daß dadurch vielen Kindern das Seelenheil erworben worden sei. Die körperlichen Krankheitszustände schlug er, in Anbetracht des Seelenfriedens, welcher darauf gefolgt und durch sie vermittelt sei, gering an. In der Unterstützung, die ihm das Hauspersonal lieh, erkannte er, welch ein Segen es sei, nur christliche Leute im Hause zu haben, da er dadurch der Nothwendigkeit enthoben worden sei, Gebethelfer von außen herbeizurufen. Die aus sogenannten „gebildeten Männern“ bestehende Direction des Waisenhauses erklärt in dem betreffenden Sitzungsprotokoll, sie seien zusammengekommen, um Ohren- und Augenzeugen des wunderbaren Gnadenwerks zu sein, welches der Herr nach seiner unendlichen Barmherzigkeit bei so vielen Kindern des Hauses in den letzten vierzehn Tagen angefangen habe. Es müsse nach den Mittheilungen des Klug angenommen werden, daß ohne Einwirkung durch Menschen eine außerordentliche Erweckung unter den Kindern stattfinde, wofür man dem Herrn nicht oft genug danken könne.[1] Der Hausarzt hat es nicht für der Mühe werth gehalten, vor der Einleitung der Untersuchung von der massenhaften Erkrankung der Kinder seiner vorgesetzten Behörde irgend eine Nachricht zu geben. Er ließ sich, ohne nach den Kindern zu sehen, von dem Klug mit der Bemerkung abspeisen, daß es sich hier lediglich um eine größere religiöse Erweckung der Kinder handle, und daß es nicht gut thue, nach ihnen zu sehen, da die Sache sonst ein ungerechtfertigtes Aufsehen machen werde.

Der Gemeinderath ging von einer andern Beurtheilung der Sache aus. Nachdem er bereits in einer frühern Sitzung den Klug provisorisch seiner Stellung enthoben, demselben jedoch freigestellt hatte, in einer gegebenen Frist um seine Entlassung einzukommen, nachdem ihm auch für diesen Fall sein Gehalt für das laufende Jahr belassen worden war, zeigte Klug der ihm vorgesetzten Behörde an, daß er sich in seinem Gewissen gebunden fühle, sein Amt nicht freiwillig aufzugeben. Grafe, der nach der von dem Vorsitzenden der Armenverwaltung, Daniel v. d. Heydt, gemachten Mittheilung diesem erklärt hatte, er trete von der Direction zurück, zeigte dem Oberbürgermeister an, „er habe zu dieser Erklärung Herrn v. d. Heydt nicht ermächtigt“ (was steht hier zwischen den Zeilen?). Hierauf erwidert Herr v. d. Heydt, daß, was er dem Oberbürgermeister berichtet habe, wirklich geschehen sei. In seiner Sitzung vom Februar hat darauf der Gemeinderath mit 23 gegen 3 Stimmen den Beschluß gefaßt, dem Grafe das ihm anvertraute Mandat als Mitglied und Vorsitzer der Direction des Waisenhauses zu entziehen, den Oberbürgermeister mit 23 gegen 2 Stimmen ersucht, mit der provisorischen Enthebung des Klug nunmehr ohne Verzug vorzuschreiten, und mit 19 gegen 8 Stimmen beschlossen, das Verhältniß des Hausarztes zum Waisenhause zu lösen.

Diesen Beschlüssen begegnete im Allgemeinen eine große Zufriedenheit. Zwar fanden auch hier ausschreitende Ausichten ihre Vertreter. Ihnen schien der Gemeinderath nicht energisch genug. Von diesem Theile der Bevölkerung gingen diejenigen Schilderungen aus, wonach brutale Gewaltmittel zur Bekehrung der Kinder angewandt sein sollten. Wir wenden uns von dieser Variante ab, da die Untersuchung in ihren Resultaten erst zeigen muß, ob irgend etwas Thatsächliches dieser Behauptung zu Grunde liegt.

Wir können es, wie die Sachen nun einmal liegen, der Partei, gegen die wir hier kämpfen, kaum verargen, wenn sie auch jetzt noch das Vorgefallene in Schutz nimmt. Unserm Standpunkte kann das nur nützen. Denn wenn zur Vertheidigung angeführt wird, wie so Mancher, der in Seelennoth gelegen, es schon erlebt habe, daß er, aufwachend, Magenschmerzen und allerlei körperliche Bedrängniß gehabt habe: so ist das eben nur die bekannte Beweistheorie das idem per idem; der Unsinn kann nie dadurch zum Sinn werden, daß der davon Befangene darauf sich steift und euch vordemonstrirt, es habe schon mehr solche Unsinnige gegeben, deshalb sei es kein Unsinn.

Zu bedauern aber ist es, daß, wie es scheint, ein großer Theil der kirchlich gesinnten Partei, als gelte der Streit der Kirche

  1. Liegt vielleicht ein Narrenhaus in der Nähe von Elberfeld?
    Anmerk. der Redact.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_201.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)