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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Geschoß. Die obere Schicht derselben (Haushalter, Wirthschafterin etc.) essen das Geflügel eben so wenig ohne Speck, wie die Herrschaft oben. Auch kommt ihnen Wein zu und allen eine gute Portion Bier täglich. Und was kosten die seidenen Strümpfe und täglich weißen Handschuhe, Halstücher etc. und der in das Haar der Kutscher und hintenstehenden Lakaien eingekleisterte, außerdem hochbesteuerte Puder!

Man bedenke dies und dann auch, daß die obersten Zehntausend alle ihre ungeheuren Bedürfnisse auf Credit nehmen und daß sie nie gemahnt werden dürfen. Niemand hat dies Gesetz gegeben, aber sie halten’s, als wär’s bei Todesstrafe verboten, irgend Etwas baar zu bezahlen. Baar bezahlen ist gemein. Die obersten Zehntausend und die unmittelbar darunter zu ihnen aufstrebenden hochrespectablen Familien bezahlen Fleischer, Bäcker, Schuster, Schneider, Weinlieferanten, Puder- und Haarkünstler, Putzmacherinnen, Juweliere u. s. w. alle 2–3–5 Jahre, oft in noch größeren Zwischenräumen (Wellington alle 9 Jahre, wie ich wiederholt hörte) und öfter gar nicht. Da sie nun gleichwohl nicht gemahnt werden dürfen, machen die Lieferanten, wenn sie’s nicht mehr aushalten können, allemal Bankerott, d. h. sie übergeben die Einziehung ihrer mit 300 Procent Zinsen und idealen Posten geschwellten Rechnungen ihrem Advocaten, der nun das Geld scharf und geschäftsmäßig eintreibt. Das ist denn allemal ein glänzender Lohn langen Wartens, nur nicht für die Herrschaften, die blechen müssen. Ich sagte: „idealen Posten“. Das bedarf einer Laterne.

Ideale Posten nennt man, „was sich nie und nirgends hat begeben“ und doch unverschämt theuer bezahlt wird. So sind z. B. „ideale Hosen“ sehr Mode, welche auf folgende Weise gemacht werden. Der „Fußmann“ oder Kammerdiener des Lord Nudle oder des Sir Dudle kommt zum Schneider des Lord Nudle oder des Sir Dudle und sagt: Geben Sir mir mal 3 Pfund und setzen Sie dem Lord Nudle oder dem Sir Dudle ein Paar Hosen für 5 Guineen auf die Rechnung. So setzt er sie für 5 Guineen auf die Rechnung, und die idealen Hosen sind angemessen, zugeschnitten, genäht und gebügelt, abgeliefert und zerrissen – Alles zauberhaft geschwind.

Aehnlich entstehen ideale Posten auf allen andern Rechnungen, besonders denen der Köchinnen, die vielleicht bald den Fleischerburschen oder den „Fußmann“ mit 1000 Pfund „Ersparniß“ heirathen und ein „Public-Haus“ kaufen wollen. Wenn Lord Nudle oder Sir Dudle die Rechnungen endlich bezahlen, können und dürfen sie nicht forschen und fragen, was ideal und was real darin sei. Das thut kein „Gentleman“, kein „Gentleman“ darf dies thun. Und so bezahlt er, daß ihm die Haare zu Berge stehen und er oft borgen muß trotz der 20–30 und mehr Tausend Pfund jährlicher Renten. Er darf natürlich auch nie selbst bestellen oder direct mit dem Handels- und Verkehrsvolke, den „trades people“ verkehren. Das geht eben so wenig, wie die Königin direct mit einem gewöhnlichen Arbeiter sprechen darf, so daß erst unlängst die Scene vorkam, daß die Majestät im höchsten Interesse für eine neue Erfindung den Erfinder (einen Arbeiter!) selbst näher befragen wollte und ihn citiren ließ, um ihre Fragen an einen Hofcavalier zu richten, der sie gegen den Arbeiter wiederholte, worauf der Arbeiter dem Hofcavalier antwortete, der die Antwort dann der Königin mittheilte. Man denke sich die Scene lebhaft. Königin und Arbeiter stehen dicht neben einander. Fragen und Antworten werden direct geführt, aber eine dritte Person muß Alles wiederholen, damit die englische Hof-Etikette, unter der die Königin selbst oft sehr leiden mag, nicht verletzt, die ungeheuere Kluft zwischen der Trägerin der Krone und dem Träger eines Ordens der Intelligenz nicht von Geist und Vernunft übersehen werde.

Man sieht schon, wie diese Herrschaften ihr Geld verläppern, ohne dessen eigentlich froh zu werden. Es ist unverschämt theuer in England, reich zu sein, und soll in den meisten Fällen mehr kosten, als man dran wenden kann. Wir sind aber noch nicht zu Ende. Die obersten Zehntausend geben sich immerwährend gegenseitig Gesellschaften, Bälle und Concerte. Es versteht sich von selber, daß die Damen dabei immer neue Kleider tragen und immer etwas Fehlendes an der Garderobe ergänzen – natürlich allemal auf Credit. Was dabei jedesmal an Victualien und Delikatessen verzehrt wird, geht in’s Fabelhafte, die Rechnung dafür aber in’s mit sich selbst multiplicirt Fabelhafte. Ich kenne ein Paar deutsche Notabilitäten der Musik hier, die mit der Aristokratie Tausende von Pfunden jährlich machen. Lady Stanley oder Herzog Aston geben eine „Party“ und wollen dazu ein Privat-Concert geben. Sie schicken zu einem der „etablirten“ Musik-Notabilitäten und bestellen sich eins „erster Classe“ mit den ersten Sängerinnen und Virtuosen. Der Concertmacher kriegt sie theils umsonst, theils à 10 Guineen, wofür auf der Rechnung je 20 stehen. So streicht er für sein Concert, wobei er selbst nicht als Künstler wirkte, – freilich oft nach langem Warten, seine 200 Guineen ein und wiederholt diese Operation während der Saison vielleicht zwei bis dreimal wöchentlich.

Die obersten Zehntausend haben meist Landsitze und große Schlösser mit Parks, Wildstand, Aufsehern, Wärtern, Dienstboten zu Dutzenden. Das muß erhalten und bezahlt werden, wie der Hausstand in London, auch während sie 5–6 Monate im Jahre verreist sind und sich vom Rheine bis zum Nil und Mississippi herumtreiben. Sie reisen natürlich nicht mit Felleisen und auf beiden Seiten hervorhängenden Stiefelsohlen, wie weiland die deutschen Handwerksburschen, sondern mit Gefolge, oft auch mit Equipage und einer besonderen Küche darin. Das kostet Geld, während zu Hause auf den Landsitzen und in der Londoner Residenz auch manchmal noch wo anders – die Rechnungen wacker fortlaufen und der Kutscher, der Fußmann, die Haushälterin sich umfangreichere Kleider machen lassen müssen, weil der zunehmende Talg auf den Rippen in den alten durchaus kein Unterkommen mehr finden kann.

Beiläufig ist nicht zu übersehen, daß die Herren sich stark an der Wett-Börse betheiligen und sie bei einem einzigen Rennen allerdings Tausende gewinnen können, öfter aber verlieren, wie dies auch bei der modernen Art, Leute zu „rädern“ (in den Spielhallen), Mode sein soll. „Auch manchmal wo anders?“ Ja, aber wo? Man sagt’s nicht gern, man spricht nicht gern davon. Aber ganze Straßen verkünden’s mit Lapidarschrift, ganze Schwadronen von Damen mit flatternden Gewändern und Federn und Schleiern zu Pferde im Hyde-Park oder zu Wagen auf dem Corso um die Serpentine herum plaudern das Geheimniß täglich mit Vielhundertpferdekraft aus. Diese Damen leben wie Millionärinnen und säen und spinnen nicht und sammeln nicht in die Scheuern, und wenn sie der himmlische Vater nicht ernährt, wissen sie doch sehr gut, wo Barthel den Most holt. Sie werden, glaub’ ich, von der Aristokratie aus purer Edelherzigkeit und im „Cultus des Schönen“ so glänzend unterhalten. Der edle Lord mit dem Silberhaar oder der ehrenwerthe Sir mit gar keinem auf dem ehrwürdigen Haupte ist hoffentlich nicht selbst betheiligt, aber er hat Söhne, Enkel, Neffen, junge oder alte Sünder von Verwandten, welche sich ihre „Herzenskönigin“ halten, die, wenn’s ihr knapp wird, mit Oeffentlichkeit droht. So muß der „Alte“ herausrücken, um die Sache zu vertuschen und den Stammbaum rein zu halten vor der Welt.

Auch giebts arme, liederliche Anhängsel zu unterstützen und – das sei zuletzt als versöhnlicher Schluß gesagt – für Noth und Elend, Hospitäler und Wohlthätigkeitsanstalten mit Summen, die des Namens, Ranges und Standes wegen fett aussehen müssen, sorgen zu helfen. Mancher Fremde in Noth, mancher Schwindler und Heuchler mit angenommenem hohen Namen weiß sich Zutritt zu so’nem geplagten Fünfzig- oder Hunderttausendpfünder zu verschaffen, dem es unmöglich ist, ihn mit 6 Pence oder sonst einer Münze abzuspeisen. Er giebt ihm eine hübsche Anweisung auf seinen Bankier. –

Man überblicke diese flüchtigen Striche zu einem Bilde des englischen Hochleben(„high life“) und danke Gott, daß man nicht englischer Lord geworden, sondern mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher für wohlerworbene, entbehrliche Silber- oder Neugroschen um die Ecke herum Abends einkneipen und ’n Töpfchen Bier und ein Würstchen schmausen’, aber es auch gleich bezahlen kann.



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