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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Wald drinnen mit seinen düsteren Schatten, in den Herzen der Menschen, die sich ihre Wohnungen an ihn hinan gebaut haben. Sie wissen Nichts von der Welt, wie sie draußen um sie liegt, sie verlangen Nichts davon zu wissen – weshalb auch? von dort her können sie keine Pisang oder Fische bekommen, und das ist eben Alles was sie brauchen. Abgeschiedener liegt in der That keine Insel der Südsee, als diese kleinen Dörfer an der Westküste Amerika’s, die der Verkehr bis jetzt noch nicht berührt, noch nicht gesucht hat – und doch scheint solch’ ein stilles, abgeschiedenes Dorf eine Weltstadt, wenn man aus dem bis dicht daran reichenden Walde tritt, aus dem Urwald, wie er nicht dichter und wilder die Niederungen des Amazonenstromes oder Indiens deckt.

Dort ist Wildniß, und wer einen solchen Wald noch nicht betreten hat, wird auch nie im Stande sein sich einen richtigen Begriff davon zu machen. – Wir haben auch Urwald in Europa, aber, guter Gott, wie zahm und friedlich erscheint der gegen die hiesige Waldung, in die der Mensch sich erst mit dem Messer seine Bahn hauen muß, sie nur einmal auch von innen betrachten zu können! – Dort herrscht Ruhe, aber es ist nicht die stille Ruhe eines europäischen, ja selbst eines nordamerikanischen Waldes, es ist wie die Ruhe des Grabes, groß und fürchterlich.

Hier und da tönt der eigenthümlich schrille Ton eines Vogels durch den Wald, aber kein fröhliches Vogelgezwitscher erfüllt ihn, der Lärm einer tobenden Affenschaar zieht vorüber und läßt die Wildniß öder als zuvor. – Jetzt plötzlich rauscht und prasselt es in dumpfem, langgezogenem Ton, und ein Schlag schmettert durch die Waldung, der den Boden erbeben macht. Es war einer der alten Baumriesen, dessen morsch gefaulter Stamm die Last der Jahre und Zweige nicht mehr tragen konnte, und mit seinem ganzen Anhang von Schmarotzerpflanzen, mit Allem was sich um ihn hergedrängt hatte, nieder zu Boden bricht. – Einen Moment wohl schweigt Alles – selbst der Affen wilde Schaar verstummt und das monotone Zirpen der Grille, während die Luft noch von dem Falle zittert und schwüler, drückender scheint als je – aber es ist auch wirklich nur ein Moment, denn noch haben sich die zerrissenen Glieder des Gefallenen nicht in ihre neue Lage finden können, noch schnellt hier und da ein lebenskräftiger junger Schößling, der nur gebeugt, nicht gebrochen ist, zurück, so ist er auch begraben und vergessen, die Affen kommen wieder herbei, ein Schwarm plappernder Papageien sucht spottend den Ton des Sturzes nachzuahmen, und das Sonnenlicht fällt zum ersten Male auf den Boden nieder, über den jener Mächtige bis dahin die Laubarme gebreitet hatte.

Durch diese Wildniß führt kein Steg, als solche die sich der Jäger selber ausgehauen hat, – Meile nach Meile dehnt sich diese furchtbare, waldbewachsene Strecke nach allen Seiten aus – Meile nach Meile, und für das Auge hat der Wanderer keinen Ruhepunkt, der ihm auf irgend einer Stelle Anderes böte, als was ihn hier in großartiger aber furchtbarer Majestät umgiebt – den Wald. Kein frischer Luftzug dringt hier herein, kein lichter Sonnenblick; von den feuchten Zweigen tröpfelt das ewige Naß, das von dem letzten Nachtregen sich gehalten, kein blauer Rauch zieht wirbelnd durch die Wipfel empor, höchstens zu seltenen Zeiten ein schwarzer Qualm von dem einsamen Lagerfeuer eines Jägers, der aber auch dem Auge jedes Anderen in diesen Wipfeln unsichtbar bleibt.

Und doch liegt wieder ein wunderbarer Reiz darin, gerade in eine solche Wildniß einzutauchen, und einsam unter dem schützenden Regendach und mit der rasch einbrechenden Nacht das wirkende Leben um uns her zu belauschen. Sehen läßt sich freilich Nichts, denn so dunkel als es überhaupt werden kann, wird es hier; und die Feuerkäfer, große prächtige Burschen mit zwei grünen Lichtern vorn, wie eine Locomotive, und einer gelbrothen Laterne auf dem Rücken, zucken und schießen durch die Nacht, und von allen Seiten leuchtet in oft phantastischen Formen das faule Holz. Ich weiß, ich hatte die eine Nacht ein altes faules Palmenblatt gerade vor meinem Lager hängen, das mit den auszweigenden Blattstreifen und halb eingeknickt gerade so aussah wie ein leuchtendes Gerippe. – Fremdartige Laute aber ziehen nach allen Seiten durch die Nacht – fremdartig und geheimnißvoll, da man die Wesen noch nicht kennt, die sie ausstoßen. Das Zirpen der Grillen dauert fort – die kleinen Thiere schienen erst gegen Morgen einzuschlafen, und hier und da hämmert noch ein einsamer Zimmermann – carpintero, wie die Ecuadorianer gar nicht unpassend einen großen Specht nennen – und revidirt irgend ein altes über Tag vergessenes Wurmloch. Jetzt schweigt auch der, und ein wilder ängstlicher Schrei tönt plötzlich von der einen Seite – rasch ausgestoßen wie der Nothschrei eines Menschen, und doch ist es nur ein kleiner schwarzer Vogel, der sich den Spaß macht umsonst die Nachbarschaft zu alarmiren. Vielleicht hat ihn aber auch die Eule erschreckt, die mit einem ganz besonders hohlen Ruf bald von da, bald von dort her ihre Gefährten lockt, und sie hat vielleicht Hülfe nöthig, denn in diesem Wald ist es keine Kleinigkeit Eule zu sein und in der Dunkelheit und den Wipfeln Beute zu finden.

Das da drüben klang wie das Bellen eines Hundes – aber kein Hund hält sich in diesem Dickicht auf; es ist eine Schlange, culebra wie sie die Eingeborenen nennen, die hier zu irgend welchem Zweck ihren Nachtgesang hält und manchmal ganz ungebührlich nahe zum Lager kömmt. Aber sie, wie alle wilden Thiere, scheut die Nähe des Menschen und flieht ihn, wenn sie ihn wittert oder hört. – Neben mir murmelt der kleine, raschfließende Strom, durch die Wipfel der mächtigen Stämme zieht der Wind, und in das Rauschen und Rasseln der großen und feuchten Blätter mischt sich der klagende Ruf der „verlorenen Seele“.

Es ist das ein ziemlich großer Vogel, der einen ähnlichen Ruf hat wie das erste klagende Ansetzen unserer Nachtigall, nur natürlich verhältnismäßig stärker. Die Südamerikaner haben ihm, gar nicht unpoetisch, jenen Namen gegeben.

Gegen Morgen wird Alles still, selbst die nimmermüden Grillen schweigen, und nur der monotone Schrei eines anderen Vogels – wahrscheinlich eine Nachtschwalbe, den kommenden Tag kündend – läßt sich in kurzen Zwischenpausen hören. Das Grau des Himmels tritt wieder lichter durch die Wipfel vor – ein röthlicher Punkt dazwischen – eine vom Morgenroth übergossene Wolke, die hierher nur den Schein hernieder sendet, und der Tag bricht an, der Tag ist da, ohne daß man ihn weiter kommen sieht. – Der Regen, der die ganze Nacht gefallen, hat ebenfalls aufgehört, denn es regnet hier selten am Tage, und der Wald liegt wieder in seiner ganzen Pracht und Schönheit um uns her.

Und es ist wahr, schön ist dieser Wald mit seinen prachtvollen Stämmen und schlanken herrlichen Palmen – überall zittert dieses Laub im leichten Wind, das Auge des Jägers nur zu oft hinüberlenkend, überall ragen diese fächergekrönten Schäfte empor, und von der Negrito-Palme an, die ihre Blätter aus dem Boden sendet, bis zu der Palma real empor, die ihre Wipfel über die höchsten Stämme hinausträgt, füllen unzählige Arten den ganzen Wald. Aber selbst diese Schönheit wirkt erdrückend, wenn sie uns eben, wohin sich der Fuß auch wendet, in immer gleicher Pracht entgegen tritt. Hier ist keine Abwechselung, keine Veränderung zwischen Laub- und Nadelholz, zwischen Dickicht, und Lichtung oder freier Wiese; es ist das ewige Dickicht das uns umgiebt, jeder Baum ein Meisterstück in sich selbst, aber jeder dem Nachbar ähnlich, und der Mensch sehnt sich zuletzt zurück nach Luft – nach Licht.

In dieser Wildniß leben auch nicht einmal Indianer, und haben, wie ich glaube, nie gelebt, und wenn es ein ganz angenehmes, eigenthümliches Gefühl ist, dort einmal das Haupt hinzulegen, wo noch nie ein Mensch geschlafen hat, stumpft sich das auch gar bald ab. – Heimwärts zieht es mich, wenn es nicht herber Spott ist, das eine Heimath zu nennen, was jetzt meinen Wohnsitz bildet, und hoch auf athmet die Brust, als sie zum ersten Mal wieder den frischen Seewind sich entgegenwehen fühlt, als sie den hellen lichten Sonnenschein auf den grünen Plan des kleinen Städtchens, auf die funkelnde blitzende Fläche der stillen Bai niederfallen sieht. – Aber hab’ ich deshalb die Wildniß verlassen? Wahrlich nicht. Das Leben dieser Menschen ist nicht anders, als das jener stillen Bäume, die daneben in dem Nachbar-Walde stehen; wie diese vegetiren sie, und ziehen ihren Lebenssaft aus dem Boden, auf dem sie stehen. Ob draußen noch andere Menschen wohnen und was die treiben, was kümmert’s sie? ob sich die Welt in Frieden verträgt, in Zwietracht schlägt, geht sie Nichts an, so lange es nicht ihre eigene Bai berührt, und den Fischen und Platanen schadet. Eisenbahnen, Orden, Telegraphen, Titel, Pensionen existiren nicht für sie und haben für sie etwa den nämlichen Sinn wie irgend ein griechisches oder hebräisches Wort. Sie arbeiten einen Tag und ruhen sechs aus, und wenn sie sterben – so ist eben ein Blatt von dem großen Baum gefallen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_009.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)