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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Einmal war sie, auf die Nachricht hin, daß ihr jüngster Sohn erkrankt wäre, mitten im Winter in großer Eile nach Hannover gereist. Sie hatte das Kind schon wieder außer Bett gefunden und kehrte nun eben so schnell nach Dresden zurück, wohin sie ihre Berufspflichten riefen. Sie fuhr mit der Schnellpost – Eisenbahnen gab es damals noch nicht – und kam ohne Abenteuer bis Magdeburg. Wie überall waren auch hier am Posthause eine Anzahl Menschen versammelt, um die Fremden ankommen zu sehen, und unter der Menge erblickte sie eine jammervolle Gestalt – ein Mädchen von 10–12 Jahren, das statt aller Bekleidung einen schmutzigen, zerfetzten Rock wie einen Mantel um den Hals gebunden hatte. Das Haar hing in wirren Strähnen um das blasse Gesicht, die nackten Arme und Beine waren von Hunger oder Krankheit abgezehrt, der ganze Körper bebte vor Kälte, und die Augen des Kindes sahen halb wild, halb blödsinnig umher. Auf ihre Erkundigungen erfuhr Wilhelmine, daß die Kleine in den elendesten Verhältnissen lebte, daß sie von ihrem Stiefvater entsetzlich gemißhandelt würde und nicht eher zu essen bekäme, bis sie eine gewisse Summe zusammen gebettelt hätte. Der Künstlerin standen die hellen Thränen in den Augen; sie zog ihre Börse heraus und schüttete den ganzen Inhalt derselben in die Hände des Kindes, das mit starrer Verwunderung auf die Gold- und Silbermünzen blickte, während die großmüthige Geberin sich den Augen der Umstehenden entzog, um mit der Freundin, die sie begleitete, im nächsten Gasthofe zu frühstücken. Erst als sie den Kellner bezahlen wollte, fiel ihr ein, daß sie ihr Geld bis auf den letzten Pfennig hingegeben hatte. Zum Glück fand ihre Begleiterin so viel zusammen, daß sie bis Leipzig kamen, wo, sich Wilhelmine in einer befreundeten Familie das Geld zur Weiterreise borgen konnte.

Aber nicht nur vorübergehende Verlegenheiten hat sich Wilhelmine zugezogen, sie hat sich schwere, dauernde Entbehrungen auferlegt, um Andern beistehen zu können. Jahrzehnte lang ist sie die Vorsehung ganzer Familien gewesen, hat Alt und Jung gespeist und gekleidet, hat die Töchter erziehen, die Söhne studiren lassen, hat Badereisen für die Kranken und Vergnügungsreisen für die Gesunden bezahlt – während sie selbst, umsonst nach Ruhe, nach Erholung seufzend, in den heißesten Sommertagen angestrengt arbeitete. Und wie oft ist sie von Gastspielen, die andern Künstlern goldne Früchte tragen, nicht nur mit leerer Casse, sondern auch mit ganz geleerten Koffern heimgekehrt, weil nicht nur ihre Börse, sondern auch ihre Kleider, ihre Theatergarderobe, ihre Wäsche sogar, in die Hände einer ihr befreundeten Schauspielerin übergegangen waren!

Und doch ist es ihr nur selten gelungen, sich – wie es in der Schrift heißt – „Freunde zu schaffen mit dem ungerechten Mammon.“ Wenn für sie selbst Zeiten der Verlegenheit kamen, war Niemand da von allen denen, die sie so lange benutzt hatten, ihr die Last zu erleichtern, Niemand, der ihr auch nur vorübergehend die Hand zur Stütze gegeben hätte. Künstler, in deren Concerten sie unzählige Mal gesungen hatte, sagten nein, als Wilhelmine sie zum ersten und einzigen Male um ihre Mitwirkung bat, und von der Schwelle eines Hauses, das ihre Güte allein zu einer behaglichen Wohnstätte gemacht hatte, wurde sie unter nichtigen Vorwänden abgewiesen, als sie nur auf ein paar Wochen Gastfreundschaft suchte. Ich könnte eine Menge solcher Beispiele, auch noch aus Wilhelminens letzter Lebenszeit anführen – aber ich will dies Thema abbrechen. Die Schonung für die Lebenden, die ich mir zum Gesetz gemacht habe, erscheint mir, wenn ich mich in diese Erinnerungen vertiefe, wie ein Unrecht gegen die Todte.

Vielleicht entsprang der Undank, der Wilhelminen so vielfach begegnete, zum Theil wenigstens aus der allgemein verbreiteten Ansicht, daß es ihr kein Opfer koste, mit vollen Händen zu geben und überall zu helfen und zu unterstützen, weil sie dies immer mit freundlichem Gefühl und freudigem Herzen that. Die Empfänger bedachten aber nicht, daß sich auch der mächtigste Strom erschöpfen muß, wenn seine Fluth in tausend und aber tausend Canäle vertheilt wird. Zum Theil war aber auch nur die gewöhnliche Erbärmlichkeit kleiner Seelen daran schuld, denen die Dankbarkeit eine Last ist, die sie entweder schnell von sich abwälzen, oder durch die sie sich zur Erbitterung, zur Feindseligkeit sogar getrieben fühlen. Wilhelmine hat furchtbar dadurch gelitten. Es gab Momente, in denen sie an aller Liebe und Treue, an allem Menschenwerth verzweifelte und sich selbst gelobte, nie mehr auch nur das Geringste für Andere zu thun. Aber das waren immer nur Vorsätze, die, sobald sie zu Thaten werden sollten, in Nichts zerflossen.

Ich selbst habe eine ganz charakteristische Scene mit ihr erlebt. Es war um die Osterzeit des vergangenen Jahres. Wilhelmine war sehr krank und oft sehr verstimmt – den einen Morgen noch mehr als gewöhnlich. Sie hatte alte Briefe durchgelesen und sich dabei an allerhand bittere Erfahrungen erinnert. Um sie zu zerstreuen, fingen wir an von der Zukunft zu sprechen, und sie vertiefte sich wieder einmal in die Schilderung des Hauses, das zu erwerben ihr liebster Traum war. In ihrer Verstimmung kam sie auf den Einfall, eine Art von Festung daraus zu machen, die durch Wall und Graben von der Welt geschieden sein sollte. Das Wächteramt wollte sie einem halben Dutzend großer Bulldoggen übertragen; „die sollen mir Jeden vom Hofe hetzen, der sich untersteht, mir mit einer Bitte nah zu kommen,“ sagte sie mit dem finstern Ausdruck, der in der Krankheit zuweilen auf dem sonst so himmlisch freundlichen Antlitz lag. „Ich will Niemand mehr helfen, will endlich ebenso lieblos, so hart sein, wie man es gegen mich immer und immer gewesen ist. Ich will endlich einmal für mich selbst leben.“

In diesem Augenblick kam die Kammerjungfer herein und meldete, es wäre ein Mann draußen, ein Drechsler, der einen Stickrahmen zu verkaufen wünsche. Er sähe blaß und traurig aus und hätte erzählt, daß er lange krank, also ohne Verdienst gewesen wäre.

Das Gesicht der Kranken drückte das innigste Mitleid aus. „Was will er dafür haben?“ fragte sie in ganz verändertem Ton, indem sie das kunstlose Machwerk beschaute; das Kammermädchen nannte die sehr geringe Summe. „Was, ist der Mensch verrückt?“ rief Wilhelmine; „dafür hat er ja kaum das Holz!“ Sie schickte ihm das Doppelte seiner Forderung und freute sich den ganzen Tag wie ein Kind über den „hübschen Rahmen, den sie so billig gekauft hatte“.

Und wie hier im Kleinen, so war es auch im Großen. Es konnte in Frage kommen, ob sich Wilhelmine, im Fall ihrer Genesung, die längst ersehnte Reise nach Italien gestatten dürfe, aber sie hat nie auch nur einen Augenblick in Frage gestellt, ob sie die großen Summen, die sie zur Unterstützung befreundeter Familien ausgesetzt hatte, fortzahlen würde. Die Bemerkung Lessing’s, daß wir am meisten von den Eigenschaften sprechen, die wir nicht haben, wurde durch sie auf’s Glänzendste bestätigt. Nie habe ich einen Menschen so viel von der eigenen Hartherzigkeit reden hören, als Wilhelmine Schröder-Devrient, während die Worte Großmuth, Wohlthätigkeit, Erbarmen gar nicht für sie zu existiren schienen.




Die Eckernförde-Halle auf der Coburger Veste.

An demselben Platze, wo im Frühjahre 1628 die Dänen unter Christian IV. die deutschen Kaisertruppen schlugen und wo sie am 7. December 1813 von der deutschen Legion unter Wallmoden geschlagen wurden, in Eckernförde wurde am 5. April 1849 unter dem Commando des Herzogs von Coburg-Gotha das dänische Linienschiff Christian VIII. in die Luft gesprengt, die Fregatte Gefion aber gefangen genommen und Eckernförde getauft. Der Gefion gestrichene rothe Flagge mit dem weißen Kreuz ist jetzt segelförmig ausgebreitet auf der Hinterwand einer Halle auf der Coburger Veste; vor derselben steht mächtig aufgerichtet der Schnabel jenes in die Luft gesprengten Schiffes, das Gallionbild König Christian VIII., Scepter und Reichsapfel tragend. Links und rechts an der decorirten Wand hängen Capitain Paludans Degen und andere eroberte Siegeszeichen. Durch eine weite und hohe Glasthüre ist die Halle vom innern Hof der Veste geschieden.

Am 26. Aug. d. J., am Nachmittag eines schönen Sonntags, aber stand jene Halle weit offen, geschützt von einem sie umziehenden Halbkreis der Coburger Turner; in diesem Halbkreis flatterte die von den

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