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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

annehmen, und dessen scharfes Auge forschend und prüfend ihre Leistungen überfliegt. Unverkennbar ist er der Baumeister.

Ehe wir von dem Allen Namen und Erklärung geben, schreiten wir durch die Straßen der freundlichen heitern Stadt, die nichts von der engen, winkligen Art alter deutscher Kleinstädte an sich hat, besehen uns die zweithürmige ansehnliche Stadtkirche aus dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts, das freigelegene alte Rathhaus auf dem Markte und bleiben endlich vor der baulichen Perle der Sladt, der Marien- oder Ritterkapelle stehen, jener oben erwähnten im Erneuerungsbau begriffenen Kirche, deren östlicher Theil, namentlich der Chor, einen wahrhaft erhebenden, den Schönheitssinn in jeder Weise entzückenden Anblick gewährt.

Dieses glänzende Denkmal deutscher Kirchenbaukunst, das seines Gleichen weit und breit nicht findet, wird durch einen Umstand zum einzigen in seiner Art und zu einer kulturhistorischen Wichtigkeit gesteigert, welche die Augen des ganzen deutschen Vaterlandes darauf lenken muß. Dieser Umstand besteht in einer dreifachen, dicht unter einander hinlaufenden Wappenreihe am Frieß, an der Außenseite des herrlichen Chors; im obersten Theile drängt sich eng Wappen an Wappen, wie Blume an Blume in einem Kranze, die beiden untern zeigen die Wappen vereinzelter, so daß dieses Schlußgesims, über welchem die Gallerie läuft, wirklich einen prächtigen Kranz bildet, einen symbolischen Gürtel deutscher ritterlicher Pietät, wie ihm kein zweiter an die Seite gestellt werden kann. Außerdem sind an den Pfeilern noch verschiedene Wappen von Engeln gehalten und noch andere im Innern der Kirche am Gewölbe in Stein gehauen zu sehen, so daß die Gesammtzahl der Wappen die überraschende Summe von 248 erreicht.

Setzen die reinen tadellosen Verhältnisse des Baues, der leichte gefällige Schwung der spitzbogigen Wölbung und die echt deutsche Ornamentik das Auge des Beschauers in ästhetisch befriedigte Bewunderung, so ruft der kostbare Wappenfrieß ein gerechtes Erstaunen in ihm wach. Ist ihm die regelmäßige Gestalt der Stadt ein Räthsel, so ist der Chor der Ritterkapelle ein doppeltes. Das erste wird erklärt, wenn man erfährt, daß im dreißigjährigen Kriege die Stadt mit allen entsetzlichen Gräueln des Mordes und Brandes heimgesucht wurde, so daß der Neubau derselben nach regelrechtem Plane ausgeführt werden konnte. Für das Doppelräthsel der Ritterkapelle gab es bis jetzt keine Lösung. Daß der Bau des Chors in die erste Hälfte des fünfzehnten, ja wohl noch in das vierzehnte Jahrhundert fallen möchte, darüber waren die Kenner der deutschen Baukunst einig, daß aber keine Inschrift, kein Document, keine Chronik auch nur die leiseste Kunde von der Veranlassung und Bedeutung dieses hochwichtigen Baues gibt, mußte um so mehr auffallen, als diese Veranlassung nothwendigerweise keine gewöhnliche, alltägliche und willkürliche sein konnte. Nur ein ganz besonderes, hochwichtiges und bedeutungsvolles Ereigniß mußte es gewesen sein, welches dieses ausgezeichnet schöne Denkmal in’s Leben gerufen, und ganz unmöglich ist es, daß nur zufälliges Belieben oder eine gewöhnliche Adelsverbrüderung fast dritthalbhundert der edelsten deutschen Geschlechter zum Bau dieses künstlerisch so hoch stehenden Gotteshauses zu Ehren der Muttergottes vereinigt hätte, die es dem Zwecke angemessen fanden, ihre Wappen zunächst an der Außenseite des Baus in Stein bilden zu lassen. Denn das ist von stark zu betonender charakteristischer Wichtigkeit, daß der reiche dreifache Wappengürtel um die Außenseite der Kirche sich schlingt, indem gewöhnliche Adelsverbrüderungen des Mittelalters ihre Wappen nur in den Kirchen aufzuhängen pflegten, wie denn auch hier, wie bereits erwähnt, eine Anzahl Wappen sich wirklich in der Kirche am Chorgewölbe in Stein gehauen befinden. Wenn man nun auch annehmen wollte, daß die auf den Chorbau bezüglichen Documente im Kirchenarchiv im Bauernkriege, an welchem sich Haßfurt auf Seite der aufrührerischen Bauern betheiligte und dafür schwer büßen mußte, oder noch früher in einer Fehde, die es in Gemeinschaft mit zehn andern würzburgischen Städten zu Anfang des Jahres 1400 um ihre Freiheiten gegen den Bischof Gerhard von Schwarzburg führte und verlor, vernichtet worden seien: so ist damit noch nicht erklärt, daß kein Chronist des Chorbaus erwähnt und keine Inschrift daran Bauherrn und Veranlassung des Baues nennt, da doch eine solche an dem unwichtigen Langhause gefunden wird, welche besagt, daß dieser Theil der Kirche im Jahre 1438 vom Bischof Johann von Bronn vollendet worden ist. Daß der Chorbau ein Denkmal deutscher Einigkeit und Brüderlichkeit sei, das predigt der dreifache Wappenkranz zu deutlich, als daß es je hätte bezweifelt werden können; welches geschichtlich großartige Ereigniß rief aber diesen großartigen Eintrachtsbund und die Errichtung seines großartigen Denkmals hervor? Wenn Schriften schweigen, müssen Steine reden.

Es fragt sich zuerst: läßt sich aus der baulichen Construction und der Ornamentik des Chors, so wie aus den Wappen bestimmen, welcher Zeit der Bau angehört? Wenn dies möglich ist, so vermögen nur drei Disciplinen im engsten Bunde genügend zu antworten und Licht auf das schöne mittelalterliche Räthsel zu werfen: die tiefste und genaueste Kenntniß des deutschen (gothischen) Kirchenbaustyls und seiner künstlerischen Entwickelung von Jahrhundert zu Jahrhundert, ja eigentlich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt; sodann eine nicht minder tief greifende Beherrschung des großen und weitläufigen Feldes der Heraldik und der Specialgeschichte des deutschen Adels im Mittelalter, um die Wappen am Chorfrieß genau zu bestimmen; endlich eine gute Kenntniß der politischen und Kirchengeschichke des deutschen Reichs jener Zeit.

Zunächst ist ins Auge zu fassen: gehören die Wappen am Frieß blos fränkischen Adelsgeschlechtern an, oder befinden sich auch Geschlechtsabzeichen andrer deutscher Adelshäuser darunter? Im erstern Falle wäre die Erbauung des Chors der marianischen Ritterkapelle eine speciell fränkische Angelegenheit gewesen und dürfte für das Gesammtvaterland schwerlich große und allgemeine Bedeutung gehabt haben; im andern Falle wachsen die Dimensionen der Bedeutung zu riesiger Größe, und der Bau wird zu monumental großartiger, allgemein deutscher patriotischer Wichtigkeit. Gelingt es nun dem tiefen Kenner der deutschen Kirchenbaukunst und seiner artistisch-historischen Entwickelung, aus der baulichen Construction und der Ornamentik des Chors zu bestimmen, daß dieser Bau durchaus nur in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts errichtet sein könne; gelingt es ferner dem gelehrten Kenner der Heraldik nachzuweisen, daß die Wappen an und in der Kirche außer denen fränkischer auch solche andrer deutscher Adelsgeschlechter aus allen Theilen des großen Vaterlandes enthalten, und daß alle Wappen nur Geschlechtern angehören, welche in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts blüheten: so erwächst die dritte Frage: fällt in diesen kurzen Zeitraum ein so allgemein hochwichtiges politisches Ereigniß, ganz besonders würdig geeignet und auffordernd, ihm ein so schönes großartiges und bedeutungsvolles Denkmal deutscher Eintracht und Bruderliebe zu errichten, und zwar von einem so großen Vereine bedeutender Adelsgeschlechter? Mit andern Worten: geschah in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine That deutscher Eintracht und Bruderliebe, die das Gemüth des gesammten deutschen Adels, als des Trägers der damaligen Geistesbildung, so mächtig ergriff, daß er sich in seinen Sommitäten zur Erbauung eines so herrlichen Denkmals dieser patriotischen Liebesthat ebenfalls in christlicher Liebe und Brüderlichkeit vereinigte?

Können diese Fragen befriedigend beantwortet werden, so bleibt immer noch die Lösung des Räthsels offen: wie war es möglich, daß eines so großartigen Denkmals, einer so großartigen Liebesthat, an dessen Errichtung sich die Gesammtblüthe der Gesittung der Nation betheiligte, nirgend Erwähnung geschieht? Würde es gelingen, auch auf diese Frage befriedigende Antwort zu geben, so erhöbe sich die Ritterkapelle zu Haßfurt zu einem so herrlichen allgemein deutschen Denkmal und strahlte nun fünf Jahrhunderte in so erhabener patriotischer Bedeutung, daß es unsre, der Jetztlebenden, heilige Pflicht wäre, dieses Denkmal würdig vollendet der großen deutschen Zukunft als Erinnerungszeichen an Einigkeit, Brüderlichkeit und Liebesthat der Väter und unser selbst zu übergeben.

Schon ehe es einem edlen deutschen Manne und hochberühmten echt deutschen Baukünstler gelang, die oben aufgeworfenen Fragen zur Freude aller deutschen Patrioten befriedigend zu lösen, genügte die weniger umfangreiche Anschauung der marianischen Ritterkapelle als einer Votivkirche des mittelalterlichen deutschen Adels, den hochsinnigen König von Baiern und begüterte Adelige für die nothwendig gewordene Restauration der Kirche zu gewinnen und zu Anfang dieses Jahres einen „Verein deutscher Adeligen zur Wiederherstellung der Ritterkapelle in Haßfurt“ ins Leben zu rufen, dessen Vereinsausschuß in Würzburg seinen Sitz hat, und dessen Thätigkeit bereits von erfreulichen Erfolgen gekrönt worden ist.

Der Zweck dieses Vereins ist, „die Ritterkapelle in Haßfurt, und zwar zunächst den Chor derselben, als ein ehrwürdiges, in seiner Art einziges Denkmal der Vorzeit, in seiner ursprünglichen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 758. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_758.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)