Seite:Die Gartenlaube (1860) 634.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

brennt noch durch meine Glieder. Ich bin entsetzlich müde, kann aber vor Aufregung nicht schlafen. Es ist lange nach Mitternacht, aber die Hitze auf meinem Lager treibt mich, die weiche, klare, dunstlose Luft von draußen und der tiefblaue Himmel oben mit seinen hellgoldenen Sternen – o ihr habt keine Ahnung von diesem dunkeln Blau und diesem hellen Gold des italienischen Himmels! – Dies Alles lockt mich, und ich möchte wieder hinaus, durch die entzückten Straßen laufen und am Hafen die Wonnen der Meeresluft trinken und mich in diesem leuchtenden, würzigen, weichen Odem der Nacht baden! Aber nein, endlich muß ich Euch schreiben (ich sage Euch, da ich nicht für Dich allein schreibe und hoffe, daß Du meine Briefe nicht nur –, sondern auch – [folgen Privatbeziehungen] mittheilen wirst). Es ist mir Bedürfniß, mich zu sammeln und wenigstens etwas von diesen Wundern der letzten Tage auf’s Papier und in eine Art von Ordnung zu bringen; höchstes Bedürfniß, mitzutheilen, auszusprechen. O, könnte ich ein Heldengedicht singen, diesen Reichthum wunderbarer Lebensbilder ausführen und einrahmen!

Doch jetzt wollen wir uns mit flüchtig erhaschten und hingeworfenen Strichen begnügen. Zunächst einige Umrisse zu dem Hintergrunde des Hauptbildes am 7. September. Du weißt, wie ich längst nach Neapel gekommen war. Von meiner Thätigkeit nur so viel, daß die Deutschen und Schweizer, die von den Neapolitanern in Bausch und Bogen bald Bavarini, bald Tedeschi – Baiern und Deutsche – mit gleich giftigem Tone genannt werden, sich theils als stupide, rohe Klötze erwiesen, die keine Ahnung von Ehre, Vaterland, Freiheit und dergleichen Idealismen haben, theils als emancipirte, blousirte und von 1848-49 her demoralisirte Abgänge gebildeterer Classen aller möglichen deutschen Regionen: Baiern, Schweizer, Oesterreicher, Berliner, Dresdener etc. Ich hatte es, glaube ich, geschickt arrangirt, daß eines Abends in einem Kaffee- und Limonaden-Hause die meisten deutschen Officiere zusammenkamen, und ich sie wie zufällig traf. Ich sprach ohne viel Complimente ziemlich offen, wie sie ebenfalls. Mit meiner Anspielung aber auf ihr ehrloses Gewerbe und Deutschlands Schande fiel ich radical durch. „Wenn ich vor zwölf Jahren nicht auf Mitbürger geschossen hätte, wäre ich erschossen worden,“ sagte der Eine. Ein Anderer schilderte mit wildaufschäumendem Zorne, wie er gegen ein Städtchen gehetzt worden war, in welchem Vater und Mutter und zwei verheirathete Schwestern mit Kindern lebten, wie er im Namen des Landesfürsten, der Ruhe und Ordnung mit Säbeln und Bajonneten umherwüthen lassen mußte – stets mit dem Gefühl, daß eine der von ihm commandirten Hieb- und Stoßwaffen Vater, Mutter, Schwester treffen könnte, und wie er aus Wuth darüber später zur Gegenpartei übergegangen. Wieder Einige erzählten von ihren Schicksalen in der süddeutschen Bewegung und wie man sie, trotzdem sie nicht die Waffen gegen den „Angestammten“ erhoben, doch so chikanirt und gehudelt, daß sie schließlich hinaus wandern mußten in die Fremde – ohne Brod, ohne Mittel! „Sprech’ uns doch Niemand von der Schande unserer Soldaterei hier! Zu Hause wegen Patriotismus steckbrieflich verfolgt, von Ort zu Ort ausgewiesen, an Niederlassung und Broderwerb polizeilich behindert, tausendfach bemaßregelt und cujonirt, endlich in’s Ausland getrieben – ergriff eben so ziemlich Jeder, was sich ihm bot, was ihm erreichbar erschien, um zu leben. Die Schande, daß wir hier sind, ist allerdings eine Schande, aber wir wollen sie hübsch mit unserer Heimath theilen und ihr von Rechtswegen die erste und größere Hälfte zuerkennen.“

In diesem Sinne rechtfertigten sie sich. Obgleich ich ihnen logisch nicht Recht geben konnte, fühlte ich mich doch auf meinem Standpunkte zu sehr beschämt, als daß ich ihnen etwas Gescheidtes hätte entgegen halten können. Im Uebrigen waren sie ganz nach meinem Sinne und erklärten ganz offen, daß sie mit Freuden ihren alten Brodherrn zum Teufel gehen sähen, um bei einem neuen Herrn, einem Helden und Soldaten, Dienste zu nehmen. Mehr war vor der Hand nicht nöthig. Kein Einziger verlor ein Wort für den längst moralisch verfallenen und gehaßten „Brod-“ und respective „Kriegs-Herrn“. Sie betrachteten sich ganz naiv als „Söldlinge“ und waren froh, aus einem abgelaufenen, schmachvollen Dienste gleich wieder in einen neuen, ehrenvolleren eintreten zu können. Ich hatte nämlich Autorität, ihnen zu sagen, daß sie der neuen Regierung willkommen sein würden, wenn sie mit Leib und Seele übergingen. Welch gefährliche Unterhandlung! Vielleicht wäre ich zu jeder andern Zeit erschossen worden. Jetzt dachten weder ich, noch die Landsleute an irgend eine Gefahr. Garibaldi war im Geiste schon da, der König aber nur noch ein verschwindender fahler Schatten. Er war am 4. Abends auf eins seiner mächtigen Kriegsschiffe gegangen, um zu fragen, ob man ihn fortschaffen wolle. „Wohin?“ fragt der Capitain. „Wohin ich befehle!“ „Nein,“ antwortete der Capitain; „nach Gaeta, ja, aber in keinen auswärtigen Hafen.“ – Die Majestät sollte beabsichtigt haben, wenigstens so viel Flotte wie möglich mitzunehmen – nach Triest. Die Flotte blieb und stellte sich sofort der neuen Regierung zur Verfügung. Er mußte auf einem fremden Schiffe fliehen, wie Louis Philipp in einer gemietheten Droschke.

Es war am Donnerstage, den 6. September Abends, als der letzte der Bourbonen schmachvoller, als je ein Tyrann, endete und floh, moralisch und politisch todt und noch athmend, lebend! Am Morgen brüllten die berüchtigten Fischweiber noch um Rettung für ihren König gen Himmel und durch die Straßen.

Am 6. Vormittags etwa um 10 Uhr stieg ich aus einer der vielen nach der berühmten Toledo herunterlaufenden Straßen herab und war in einer Minute von vielleicht ein Dutzend Droschkenkutschern umgeben, da ich Miene gemacht hatte zu fahren. Sie fluchten und schlugen sich thatsächlich um mich, wüthend gemacht durch den Mangel der letzten Tage, die vielleicht 100,000 der wohlhabendsten Bewohner aus der Stadt getrieben. (Dafür sind nun auch vielleicht doppelt so viel gekommen, als der König verschwunden und Garibaldi erschienen war.) Ich entschied mich, arg zugerichtet – aber in der besten Absicht mißhandelt – für den Einen und flog wie auf einem Luftschiffe durch die brennende, blendende Toledostraße. Welch seltsame Thätigkeit! An allen Läden mit königlichen Insignien (Hoflieferanten) war man leidenschaftlich beschäftigt, die Wappen, Schilder und Decorationen des Bourbonenthums theils abzureißen, theils auszukratzen oder zu überstreichen.

Dafür stiegen die Tricoloren Sardiniens auf. Selbst die königlichen Lotterie-Gebäude und das königliche Postamt waren eifrig mit dieser Metamorphose beschäftigt – sechs Stunden vor der Abfahrt des letzten Bourbonen. Als ich nach zwei Stunden zurückkam, war in der ganzen, langen, breiten, glänzenden Toledostraße die letzte Spur königlicher Ab- und Auszeichnungen verschwunden – Alles voll sardinischer Tricoloren und Vorbereitungen zu der großen Garibaldi-Illumination des folgenden Abends. Während des ganzen Tages schleppten sie königliche Koffer und Kisten auf zwei spanische und einen österreichischen Dampfer. Um 8 Uhr Abends soll der junge Mann, bisher von Gottes Gnaden König beider Sicilien und von Jerusalem etc., Herzog von Parma und Piacenza etc. (er hatte noch mehrere erhabene Titel) mit seiner jungen, unglücklichen deutschen Frau durch eine nach dem Hafen öffnende Hinterthür des „realen Palastes“ auf einen dieser spanischen Dampfer gekommen und nach Gaeta abgefahren sein. Ich habe Niemanden finden können, der zusah. Es scheint sich Niemand hinzugedrängt, darum bekümmert zu haben.

Die Stadt blieb ruhig bis etwa 101/2 Uhr. Da stieg über dem Dache des Café d’Europa die größte Fahne mit dem Kreuze des Hauses Savoyen hoch in die klaren Abendlüfte. Ganz Toledo, das ganze Westende Neapels, brach in ein betäubendes Jubelgeschrei aus, das weit von der Chiaga und dem Berge Posilippo und vom Süden her aus dem weiten Hafen wiederhallte, von den Mastbäumen und Dampfschlotten wiederholt und verstärkt ward. Jeder wußte, daß der König geflohen und Garibaldi im Anzuge war. So machte sich der erste volle Aufschrei des Freiheitsgefühls geltend, und mit welchen neapolitanischen Gliedern und Kehlen! Es ist nicht möglich, diese Zuckungen und Gesticulationen, diese umherschießenden Flammen der Blicke, Arme und Beine, diese Mimik und Gymnastik neapolitanischer Leidenschaft zu schildern.

Am folgenden Morgen um 12 Uhr war er glücklich angekommen, 60 geographische Meilen weit her, die er in 17 Tagen durch das Land Neapel mit 100,000 Mann Kerntruppen – als Führer einer rasch zusammengewürfelten kleinen Schaar – Schritt für Schritt Sieger und Held – zurückgelegt hatte.

Ich sah ihn nicht ankommen. Die Straßen voller Fahnen und Flaggen und Ilunminations-Decorationen, voll marschirender National-Garde und ihrer National-Fahnen, voll Menschengewühl und wahnsinnigen Jubelgeschreis machten es mir und tausend Anderen unmöglich, in die Nähe des Eisenbahnhofes zu kommen, wo ihn Deputationen und Gesandten-Equipagen und tobende Wogen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_634.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)