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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

so zu sagen den Ton der Stimme hört; die Buchstaben sind die gleichen, und doch hört man bald den leisen geheimnisvollen Klang, bald den vollen Einsatz der Stimme; man merkt die Kunstpausen, die zur nöthigen Spannung gemacht werden, man sieht das schelmisch vergnügliche Auge des Erzählers, seine wechselnden Gebehrden, ohne daß er dabei in schauspielerischen Vortrag kommt.

Der beste Erzähler dieser Art, ja das unerreichte Muster eines solchen ist Johann Peter Hebel, bekannt als „Rheinländischer Hausfreund“ und Verfasser der „Allemannischen Gedichte“.

Da haben wir’s nun sofort: zum richtigen Erzählen einer Anekdote gehört poetischer Sinn und Takt. Die Personen und Verhältnisse müssen leicht und bestimmt gezeichnet, mit einem leisen, nicht zu groben und nicht zu feinen Farbenauftrag versehen und zur schnellsten Uebersicht richtig gruppirt sein; man darf weder zu lange noch zu kurz bei den eigenthümlichen Merkmalen von Personen und Gegenständen verweilen. Man muß es dem Erzähler anmerken, daß er die Dinge kennt und sieht; dadurch kennt und sieht sie auch der Zuhörer vor sich. Am füglichsten ist dabei ein gewisser dramatischer Vortrag. Es geht gar nicht anders, wenn die richtige Wirkung hervorgebracht werden soll; man muß die Personen sprechen lassen und zwar rasch und knapp, ohne dabei in Angst zu sein, daß der Zuhörer gar zu sehr Eile habe. Denn es gibt auch Menschen, die mit ungeduldiger Hast und Genußsucht nur die sogenannte Pointe, den Spargelkopf wollen ohne den Stengel. Aber es wächst kein Spargelkopf ohne Stengel, keine Aehre ohne Strohhalm. Der echte Anekdoten-Erzähler muß sein eigenes Behagen und das seiner Zuhörer kennen und ermessen, dann werden solche kleine Geschichten zu wahren unvergänglichen Kunstwerken, und weil die Kunst ihr ewiges Vorbild in der Natur hat, so zeigt sich auch hier, daß nicht der Umfang dem Werke seine Schönheit und seine Bedeutung gibt, sondern das Ebenmaß, das in jedem herrscht, und das ist im Kleinen oft noch deutlicher und ausdrucksvoller als im Großen.

Es sind Dichter vergangen und werden noch Dichter vergehen, die umfangreiche Werke geschrieben haben, während – so weit sich voraussehen läßt – die kleinen mit künstlerischer Anmuth gebauten Geschichten Hebel’s als Eigenthum der deutschen Nation bestehen werden, so lange die deutsche Sprache besteht. Von keinem deutschen Dichter sind so viele Geschichten in alle Schulbücher übergegangen wie von Hebel. Sie sind nicht nur Muster von Correctheit im Satzbau, in der einfachen unverschnörkelten Ausdrucksweise, im zutreffenden Worte ohne aufgeleimte Verzierungen, ohne Verwahrungen mit „etwa“ und „wohl“ und „oft“ u. dergl.; auch der Ton des Vortrags ist ein so rein schöner und inniger, daß diese Erzählungen nicht gemacht, sondern gewachsen erscheinen, und sie haben darum die Eigenschaft der classischen Schriftsteller, die nicht Noth darunter leiden, wenn sie in Schulen grammatisch zerlegt werden. Die Hebel’schen Geschichten haben aber dabei auch in ihrer Art etwas wie das Volkslied, heiter und sinnig, übermüthig schalkhaft und dabei wieder voll reinster frommer Rührung ohne alle Frömmelei. So sind die Geschichten Hebel’s ein Eigenthum und eine Eigenthümlichkeit des deutschen Volkes, dem keine andere Nation etwas Gleiches zur Seite zu stellen hat; denn die Fabeln Lafontaine’s sind theilweise Aesop und Phädrus nachgeahmt, und die kleinen Gleichniß-Erzählungen Benjamin Franklin’s sind an Zahl viel geringer und auch weit mehr unmittelbar lehrhaft und weniger poetisch. Franklin häuft die Lehren z. B. in der kleinen Geschichte: „die Kunst reich zu werden“ zu sehr aufeinander; sie sind nicht auf dem Boden der eben erzählten Thatsachen gewachsen, sondern darauf zusammengetragen. Franklin läßt seinen Vater Richard viele an sich vortreffliche Sprüchwörter auf einmal vorbringen, theils selbst geschaffene, theils überkommene. Hebel geht äußerst sparsam mit dem Sprüchwort um; er häuft nicht das Korn aufeinander zur Aufbewahrung, er streut das einzelne Korn aus, daß es hinreichenden und lockern Boden finde, um zu wachsen. Franklin arbeitet immer auf einen bestimmten Zweck hin, Hebel will erheitern und dabei lehren und kräftigen. Ja, dieses nicht einmal immer. Er ist wie ein behaglicher Zecher; nicht jeder Schoppen ist für den Durst, es ist auch mancher zur bloßen Erheiterung und zur Geselligkeit. [1]

Mag es Schriftsteller geben, die aus Ehrgeiz, aus Ruhmsucht schreiben, um Aufsehen zu erregen, um sich geltend zu machen – sie mögen zeitweise Manches erreichen, Eines aber wird ihnen nie, ein Ruhm und eine Wirkung, die sie freilich gering anschlagen, und das ist der, daß ihre Worte von Kindeslippen gesprochen werden und daß Jeder noch im Alter sich deren erfreut. Erzählungen wie: der Schneider in Pensa, Kannitverstahn, der Husar in Neiße, Kindesdank und viele andere, kennt jeder deutsch lesende Knabe, und jeder Mann erinnert sich ihrer mit Freude.

Zwei Erzählungen aus dem Leben Friedrichs II. und Kaiser Josephs, „König Friedrich und sein Nachbar“ und „das gute Heilmittel“, wären ohne die schlichte und dabei dramatisch so glückliche Vortragsweise Hebel’s gewiß nicht so wie jetzt in die allgemeine Kenntniß gedrungen als Beispiele unbeugsamen Rechtssinnes und menschenfreundlicher Güte. Man denke sich, daß einer der redseligen heutigen Kinderbücher-Schreiber diese Geschichten vorzutragen hätte! Wir bekämen allerlei hochtrabende und hohle Redensarten in den Kauf, aber vor lauter Entzückungen und Ausrufungen des Autors kämen wir nicht zur einfachen Aufnahme des Gegenstandes. Gewiß, das Streben, die Jugend für alles Rechtschaffene und Edle zu erwecken, ist hoch zu rühmen; aber die Begeisterung der Autoren für die Sache ist noch nicht das Talent zur Darstellung derselben. Daß nur die vollendete Bildung und nicht die noch brausende Halbbildung zum schlichten einfach kernigen Ausdrucke gelangt, zeigt die musterhafte Vortragsweise der Märchen der Gebrüder Grimm. Hier ist die gleiche Tonart wie bei Hebel. – Die Betrachtungen über das Weltgebäude, die Thierschilderungen Hebel’s sollten noch heutigen Tags als Muster dienen, dann würde auch die aufgeputzte, schönthuerische Manier, mit der man heut zu Tage Naturwissenschaftliches populär zu machen sucht, verschwinden müssen.

In allen Schul-Lesebüchern sind die besten Stücke aus Hebel entnommen, und doch sind sie nicht eigentlich für Schul-Lesebücher geschrieben. Das bildet ihren besonderen Vorzug. Das Naturleben wie das Menschenleben macht nicht besondere Toilette für das Kind. Es gilt nur, das Auge des Kindes auf das Wesentliche zu lenken, Uebersichtlichkeit und Klarheit in die Dinge und Vorkommnisse zu bringen. Es wäre gut, wenn man einmal den Inhalt der deutschen Schul-Lesebücher einer genauen Prüfung unterwerfen würde.[2] Dann würde man auch finden, wie man jetzt aller Orten Geschichten für Kinder zusammenbraut, voll süßer Gefühle und reiner Lehren, deren innere Mattigkeit durch einen gewaltsam überschraubten Ton und deren innere Hohlheit durch einen Wortpomp verdeckt werden soll. Diese Producte werden vergehen, wie sie gekommen sind, während die Hebel’s bleiben, weil sie ein im Leben gereifter Mann und dazu ein Dichter schuf.

Erst als Hebel seine Dichterweihe von Gottes Gnaden in den allemannischen Gedichten bewiesen hatte, drängte es ihn dazu und fühlte er sich befähigt, dem Volke und gleichmäßig der Jugend Lehre und Erheiterung zu bieten. Er hatte das Schwabenalter bereits zurückgelegt, hatte sich in verschiedenen Lebenskreisen, wenn auch in engem Bezirk, umgethan, war reicherfüllt an Wissen und Erkenntniß, und nun wurde er der Hausfreund seines Volkes.

Hebel hat in der Sprache seiner Heimath am Oberrhein Gedichte geschaffen, die zu dem Besten gehören, was die deutsche Lyrik hervorbrachte. In ihnen ist ein neuer und eigenthümlicher Gemüthston; und es will viel heißen, auf diesem Gebiete einen neuen Ton anzugeben. Die allemannischen Gedichte sind ein volkgezeitigtes Ergebniß der Stimmung und Natur Hebel’s, wie der Stimmung und Natur seines Volksstammes. Diese Thatsache, daß ein Einzelner zur persönlichen Erscheinung und Ausdrucksweise eines Volksstammes wird, gibt den Gedichten Hebel’s eine mehr als blos literarische Bedeutung, wenn auch diese von großem Belang ist. Hebel hat einen bestimmten Volksstamm zum Träger, eine bestimmte Landschaft zum Schauplatz und eine bestimmte (seit dem 8. Jahrhunderte, seit der St. Gallischen Uebersetzung der ambrosischen Hymnen) nicht mehr schriftgemäße Sprache zum Ausdruck seiner dichterischen Empfindungen und Anschauungen – man kann nicht sagen gewählt, sondern der innersten Natur der Sache gemäß aufnehmen müssen.

  1. Darum ist der Hebel-Schoppen, der am hundertsten Geburtstage Hebel’s gestiftet wurde, schon in diesem Sinne ein entsprechendes Abbild seines Strebens. Nicht eine wohlthätige Stiftung, eine Armenspeisung allein ist im Geiste Hebel’s, sondern eine Stiftung zur Heiterkeit, zur Freude.
  2. In dem sächsischen Schul-Lesebuch, genannt „Lebensbilder I“, heißt es Seite 40 der zwanzigsten Auflage:

    „Ihr Dütennäscher, laßt euch sagen,
    Viel Zuckerzeug verdirbt den Magen.“

    Kann es nach Form und Inhalt etwas Abgeschmackteres geben, als solche Verse?

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_630.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2022)