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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Wochen her sein, da kam mit einem der Emigrantenschiffe ein Mann mit seiner Tochter und quartierte sich bei mir ein. Es war etwas Feines an ihm, wie an dem Mädchen, was wir selbst bei den besseren Einwanderern[WS 1] nicht gewohnt waren, und von Andern, die mit ihm auf dem Schiffe gewesen, aber sich billigeres Logis und ein Bett voll Wanzen in der Nachbarschaft gesucht, vernahm ich nachher, daß er Regierungsbeamter oder so etwas gewesen sein soll. Ich habe ihn selber nie darum gefragt, denn er war fast niemals hier im Bar-Room, und ich hörte nur so viel von ihm, daß er schnell nach dem Westen wolle. Am vierten Tage wurde der Mann krank und mußte sich legen; er bezahlte prompt und gut, und wir thaten für ihn, was wir konnten – in der letzten Woche hat meine Frau selbst abwechselnd mit dem Mädchen bei ihm gewacht. Aber die Doctoren und alle Pflege konnten ihm nicht helfen; gestern am frühen Morgen starb er und heute ist er begraben worden. Das Mädchen war von Anstrengung und Gram so herunter, daß sie bei der Leiche selbst wie todt eingeschlafen war; wir legten sie auf’s Bett und dachten, sie solle nichts von dem Begräbniß merken, wenn wir’s rasch machten; aber sie war aufgewacht und schrie, sie müsse wissen, wo ihres Vaters Grab sei – und das Uebrige habt Ihr ja wohl mit angesehen. Nun ist die Sache so: Ob der Mann etwas Vermögen mitgebracht hatte, weiß ich nicht; viel kann es aber nicht sein, denn er klagte schon den dritten Tag über die Kosten, die ihm der unvermeidliche New-Yorker Aufenthalt verursache. Jetzt muß das Kind also irgendwo untergebracht werden. Sie ist zu eigentlicher Arbeit noch zu schwach, so herzhaft und flink sie auch sonst sein mag, und wir selbst können sie nicht behalten. Finden wird sich wohl etwas für sie, aber sie muß es nehmen, wie es kommt, und darf bei dem mancherlei Elende unter der Masse von Einwanderern, die Hülfe beansprucht, nicht wählen.“

Der Farmer hatte ernsthaft zugehört und nur durch einzelnes halbes Nicken seine Theilnahme geäußert.

„Ich möchte einmal mit dem Dinge reden,“ sagte er, als der Wirth geendet, „und wenn sie nicht gar zu schlimm traurig ist, könnet Ihr sie wohl einmal holen!“

„Will sehen,“ erwiderte der Wirth, sich zögernd erhebend, und ging.

Es mochten zehn Minuten vergangen sein, als sich eine Seitenthür öffnete und das junge Mädchen mit einem Ausdrucke scheuer Zurückhaltung, die durch das leidende, verweinte Gesicht eine noch erhöhte Wirkung erhielt, in’s Zimmer trat. Sie konnte kaum über fünfzehn Jahre sein; demohngeachtet lag etwas in ihrer Erscheinung und der Weise, wie sie ihren schlanken Körper trug, das auf früh errungene Selbstständigkeit deutete, und der alte Kreuzer setzte sich bei ihrem Anblicke wie unwillkürlich aus seiner nachlässigen Stellung aufrecht.

„Das ist der Gentleman!“ sagte der Wirth, welcher ihr gefolgt war, und der Farmer hustete einige Male, als wisse er nicht recht, wie seine Worte einzuleiten.

„Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Miß, weil Sie einen rauhen Bären hier sitzen sehen,“ begann er endlich, „bei uns auf dem Lande tragen sie keine feinen Handschuhe, sie meinen’s aber darum vielleicht desto aufrichtiger!“

„Ich fürchte mich nicht!“ erwiderte sie leise, während ihr großes, trauriges Auge in den treuherzigen Zügen des Fremden hängen blieb.

„Well, so denke ich, Sie kommen einmal zu mir her und hören, was ich Ihnen sagen möchte,“ fuhr der Letztere fort, den möglichsten Grad von Freundlichkeit in sein verwittertes Gesicht legend; „wissen Sie: hören soll der Mensch Alles, heißt’s in Amerika, das Thun steht nachher Jedem frei!“

Sie näherte sich, ohne eine Miene zu verändern, während der Alte rasch einen der Stühle am Tische zurückschob. „So, jetzt setzen Sie sich hierher,“ sagte er, „und nun,“ fuhr er fort, als das Mädchen ungezwungen seiner Aufforderung folgte, „nun geben Sie mir einmal Ihre Hand – Sie geben sie einem rechtschaffenen Manne und brauchen sich nicht zu scheuen!“

Es war ein eigenthümlicher Anblick, dieses jugendliche Gesicht, das regungslos kaum etwas von den Bewegungen des übrigen Körpers zu wissen schien. So legte das Mädchen, fast wie mechanisch, kalt und still ihre Hand in die des Farmers, und dieser sah eine Weile in ihr ausdrucksloses Auge, schloß dann warm seine Finger um die ihren und schüttelte endlich den Kopf.

„Wissen Sie, Miß, es ist ein schlimmes Land, das Amerika,“ begann er wieder, „es ist noch Keiner herübergekommen, der nicht irgend etwas, woran sein Herz gehangen, hat fahren lassen müssen – ich weiß ja wohl, Sie haben einen schweren Verlust gehabt; aber das Grämen thut’s hier nicht, und der Mensch muß immer vorwärts und nicht zurücksehen – hab’ es auch erst lernen müssen, so alt ich bin. Hier ist Jeder selber sein bester Freund, und wenn er nicht auf sich sehen will und sich an Verlorenes hängt, geht er selber mit verloren. Sie sehen so verständig aus, so jung Sie auch sein mögen, daß ich Ihnen das wohl sagen kann. Jetzt möcht’ ich aber doch einmal wissen, ob Sie wirklich das sind, was ich mir gedacht habe, eine starke, junge Lady, die einsieht, um was es sich handelt, oder ob Sie mit sich ungefragt thun lassen, was eben kommt. Haben Sie denn schon einen Gedanken wegen Ihrer Zukunft gehabt, Miß?“

Das Auge des Mädchen ruhte ernst und forschend in des Fragers Gesicht. „Mein Vater ist eben erst begraben worden, und ich weiß noch nicht einmal, wo!“ erwiderte sie mit einer leisen, tiefen Stimme, während es in ihrem Gesichte zuckte, als strebe sie mit Macht ihre Thränen zurückzudrängen.

Der Alte nickte einige Male rasch hinter einander. „’s ist so, und es könnte fast über die Kräfte eines alten Menschen gehen; aber es ist ein böser Lehrmeister, das neue Land, und das schärfste Mittel gegen nutzlose Trübsal sind neue Sorgen. Hier im Kosthause können Sie doch nicht bleiben; in Dienst zu gehen sind Sie auch noch zu schwach – und werden ohnedies nicht dazu passen, wenn auch Mancher in einen noch sauerern Apfel hat beißen müssen. Haben Sie denn Jemand in Deutschland, auf den Sie sich verlassen können?“

In dem Auge des Mädchens begann es sich zu regen, als ob neue Gedanken in ihrer Seele aufschössen. „Ich weiß Niemand in Deutschland, der sich groß um mich kümmerte,“ sagte sie nach einer Weile; „Mutter starb vor zwei Jahren und Vater ging fort, weil er es mit der Revolution gehalten hatte.“

Der Alte nickte wieder, als sie schwieg. „Und so müssen Sie jetzt doch allein an sich denken, trotz allen Kummers!“ versetzte er. „Hören Sie einmal ein Wort, das mir vom Herzen kommt. Ich weiß nicht, wer Sie sind, noch was Sie haben, aber ich wollte, Sie könnten so viel Zutrauen zu mir fassen, als ich Gefallen an Ihnen finde. Ich wohne, was sie hier „im Westen“ nennen und wo die meisten Einwanderer hingehen –“

„Vater wollte auch nach dem Westen!“ unterbrach sie ihn mit aufleuchtenden Augen.

„’s ist schon recht!“ nickte Kreuzer. „Da habe ich eine Farm – oder ein Bauerngut, wenn Sie das besser verstehen; eine schöne Gegend rings herum, und auch Gesellschaft genug von Deutschen und Amerikanern; habe eine brave Frau, aber blos zwei Jungen – es hat einmal kein Mädchen geben sollen, so sehr sich auch meine Alte danach gesehnt hat. Nun weiß ich, daß ich keine größere Freude anrichten könnte, als wenn ich eine Tochter in’s Haus brächte – die Sache fuhr mir gleich durch den Kopf, als ich Sie so im Jammer an der Hausthür sah – da haben Sie Alles! Und nun,“ fuhr er, ihre Hand drückend, fort, „denken Sie sich die Sache selber durch; ich kann Red’ und Antwort geben über meine Verhältnisse; – wenn Sie eine neue Heimath haben wollen, so sollen Sie eine haben, gedrängt sollen Sie aber nicht dazu werden! Morgen früh komme ich wieder, bis dahin sind Sie ja wohl mit sich einig geworden!“

Er erhob sich langsam, den Blick auf ihr ruhen lassend, als wolle er ihr Gesicht recht seinem Gedächtniß einprägen, und drehte sich dann nach dem Wirthe. „So, und nun sprecht ein vernünftiges Wort zu dem Kinde, damit sie weiß, wie es hier steht; und wollt Ihr selber klaren Bescheid über mich haben, so fragt bei Mr. Schmidt, dem Consul, nach; ich heiße Michel Kreuzer aus Iowa!“ Er nickte noch einmal dem „Kinde“ zu und wandte sich dann nach der Thür. – –

Zwei Tage nach dem soeben Erzählten saß Kreuzer mit dem jungen Mädchen in einem Wagen der New-Yorker Central-Eisenbahn und rollte dem Mississippi entgegen.

Der Farmer hatte den Ellbogen in das offene Fenster an seiner Seite gestützt, sah in den sonnigen Morgen hinaus und lächelte, wie in einer erfrischenden Erinnerung. Als er am Morgen nach dem von ihm gemachten Anerbieten wieder in das Kosthaus in Greenwich-Street getreten, war ihm das Mädchen in voller Fassung

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Einwandern
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_626.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)