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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

gewissenhaften Hausarzte, nach, und der Gemahl trat an das Fenster, um den Sanitätsrath in den Wagen steigen zu sehen. Er lächelte, denn jetzt durfte er seinen kühnen Plänen nachleben. Nicht die Sorge um seine Gesundheit trieb ihn nach Marienbad; Kanzleirath Tiphonius strebte nach Höherem, er überließ sich im Geheimen überaus ehrgeizigen Bestrebungen. Wer sich einen Kenner der Büreaukratie nennt, wird wissen, daß auch ein Kanzleirath jener Leidenschaft fröhnen kann, die schon den Catilina in’s Verderben gestürzt; nur war sein Streben nicht auf die Herrschaft über Rom gerichtet, er begnügte sich mit Bescheidnerem. Se. Excellenz der Herr Minister befanden sich in Marienbad, daher sein erbittertes Streben, gleichfalls diesen Badeort zu besuchen, um dort vielleicht seine Absichten auf dem gradesten Wege zu erreichen. Von Bekannten und aus Zeitungen hatte er erfahren, daß die Zeiten der Idylle noch nicht gänzlich entschwunden seien, und daß namentlich in Badeörtern vornehme Personen ohne Stern und in weicherer Gemüthsverfassung unter den gemeinen Creaturen umherwandeln; deshalb hoffte er Se. Excellenz auch für sein Anliegen zu gewinnen. Der Unglückliche litt an den entschiedensten Anschoppungen – bureaukratischen Ehrgeizen; ihm konnte nicht mehr Glaubersalz, ihm konnte nur noch der Minister helfen.

Wir sind weit entfernt, auf den wehmüthigen Abschied des Kanzleirathes von seiner wohlbeleibten Frau Gemahlin und Tochter, auf seine Reiseabenteuer, auf die geistreichen Bemerkungen unterwegs, auf die Feindschaften, die er im Eisenbahncoupé und Postwagen durch Gebehrden ungemessenen Stolzes angezettelt, näher einzugehen; uns liegt nur ob, die Saison des verwegenen Bureaukraten, die Art und Weise, wie er die ihm bewilligte Epoche der Erholung und Muße ausbeutet, mit den gebührenden Farben auszumalen.

Die Höhe seines jährlichen Gehaltes und der gemachten Ersparnisse konnte den Kanzleirath nicht veranlassen, auf Reisen und in dem Curorte ungewöhnlich splendid aufzutreten. Mit stiller Zufriedenheit hatte er schon zu Hause eine wahrscheinlich ausreichende Anzahl Gulden, das Stück zu sechzehn Silbergroschen, erworben und ausgerechnet, daß die Mehrkosten seines Aufenthaltes, in Betracht, daß seine Gemahlin die Saison in Pankow bei der Tochter zubringe, durch das erzielte Agio wohl gedeckt werden könnten. Er miethete deshalb in Marienbad eine jener entfernteren Wohnungen, welche an den waldigen Bergabhängen liegen und im Laufe des Tages einige Kletterübungen nöthig machen, bezahlte die Curtaxe und die Bademusik, deren höfliche Beauftragte jedem Curgaste sofort ihre Aufwartung machen, und traf seine Vorkehrungen, um am nächsten Morgen mit der Cur zu beginnen. Bei gewöhnlichen Patienten hätten diese unfehlbar darin bestanden, ein zierliches Glas von etwa sechs Unzen Gehalt zu kaufen, den Empfehlungsbrief des Berliner Hausarztes an den betreffenden Badearzt abzugeben, der ihn im Winter besucht und um Zusendung von Kranken ersucht hatte, am Abend vor der Cur nur eine „Sprudelsuppe“ und ein Compot von „Zwetschken“ oder „Pflaumen“ zu essen; unser Freund Tiphonius, wenn er uns erlaubt, ihn so vertraulich zu bezeichnen, hatte ganz andere Dinge im Sinn. Zuerst mußte ergründet werden, wo Se. Excellenz der Herr Minister wohne, welche Begleitung er um sich habe, auf welche Weise er den Brunnen trinke, wo er den Nachmittag zubringe und welche Eigenthümlichkeiten der Lebensweise er beobachte. Es war nicht schwer, die nöthigen Erkundigungen einzuziehen.

Für eine große Menge müßiger Menschen liegt der Hauptreiz vielbesuchter Bäder darin, die Vertraulichkeit und das nähere Beieinandersein hervorragender oder vielgenannter Personen dahin auszubeuten, sie auf allen Schritten zu belauschen, Anekdoten über sie zu bilden und dieselben nach Möglichkeit in Umlauf zu setzen. Der ehrgeizige Kanzleirath brauchte nur bei Tische die Bekanntschaft des nächsten Herrn zu machen, der ihm, als der Kellner die „Suppe mit Ulmer Gersteln“ gebracht, prüfend in die Augen sah und unaufgefordert das Salzfaß zuschob, um alle nothwendigen Thatsachen zu erfahren. Herr Tiphonius war nicht der Klügste, was man aus seinem schlechthin abschreiberischen Berufe wohl schon ersehen haben wird, allein man braucht nicht „der Klügste“ zu sein, und kann doch noch sehr klug sein; dieses Axiom durfte man unserem Kanzleirathe getrost nachrühmen. Zwar hatte er, wie es doch alle strebsamen Staatsmänner eigentlich thun sollten, den Macchiavell nie gelesen, allein er hatte doch den „kleinen Macchiavell“, wie ihn auch der letzte Abschreiber in einem Ministerialburean so dringend als das tägliche Brod braucht und nach und nach praktisch erlernt, gehörig inne und beherzigte seine Lehren. Denn wenn der alte und große Macchiavell ausschließlich für Fürsten und Gewaltthäter geschrieben hat und ihnen angelegentlich die besten Maßregeln anempfiehlt, ihre Völker sich gründlich und nachhaltig unterthan zu machen, lehrt der kleine Macchiavell, den wir vielleicht noch einmal zu Papier bringen werden, die armen Subalternbeamten und Papierunterwürflinge, Gehorsam bis an die äußersten Grenzen der aschgrauen Möglichkeit zu leisten, und sich ihren Herren und Chefs durch die verkrümmteste Liebedienerei, ja, wenn es sein muß, selbst – durch Treubündelei angenehm zu machen.

Kanzleirath Tiphonius hatte beschlossen, den kleinen Macchiavell mit allen Requisiten in Scene zu setzen. Der bereitwillige Herr mit dem Salzfaß unterrichtete ihn, noch ehe die Zwetschken umhergereicht wurden, genau über die Lebensweise des Ministers. Er gehörte zu seinen Verehrern, obgleich er nicht im Staatsdienst stand, sondern dem Kaufmannsstande angehörte, aber er las alle parlamentarischen Verhandlungen und schätzte den Minister als einen liberalen und anständigen Herrn. Aus diesem Grunde beobachtete er Se. Excellenz täglich so eifrig, wie Wind und Wolken, und vermochte dem Kanzleirath, der ein wenig erröthend, so weit nämlich die Farbe des Blutes durch den Korduan seiner Physiognomie dringen konnte, ihn merken ließ, daß nur ein sehr wichtiges persönliches Anliegen der Grund seiner Anwesenheit in Marienbad sei, die nöthige Anweisung über seinen hohen Chef zu geben.

„Daß ich ihm als ein loyaler und fleißiger Beamter bekannt sein muß, glaube ich mit Gewißheit annehmen zu können,“ sagte der Kanzleirath, als der Herr mit dem Salzfaß seine Auseinandersetzungen geendet hatte, und sah wie Wallenstein, wenn er im fünften Acte beim Anblick des Jupiter des im Kampf gebliebenen Max Piccolomini gedenkt, melancholisch in die Ferne; „ich habe bei den Wahlen stets für die Candidaten des Ministeriums gestimmt –“

„Wofür Ihnen der liberale Herr Minister schwerlich Dank wissen wird!“

„Ja, bei Gott, Sie haben Recht, Herr von Manteuffel hat ja nicht mehr die Zügel des Regiments in Händen; dann schweigen wir lieber davon!“ flüsterte der Kanzleirath und seufzte tief, seiner politischen, etwas reactionären Antecedentien und Spucknapfstudien des Novembersystems gedenkend.

„Wenn ich Ihnen einen Rath geben kann,“ sagte der Cicerone, „so suchen sie am Morgen auf der Brunnenpromenade an den Herrn Minister zu kommen. Er speist, nachdem er Vormittags die einlaufenden Depeschen gelesen hat, im engsten Kreise in seinen Zimmern. Nachmittags macht er gewöhnlich, um dem verbotenen Schlafe vorzubeugen, eine Spazierfahrt. Gegen Abend erscheint er auf der Promenade, aber sich ihm dann auf irgend eine Weise zu nähern, wäre nicht empfehlenswerth; er wird gewöhnlich durch allerlei vornehme Bekanntschaften in Anspruch genommen. Auch zu einer Visite möchte ich nicht rathen!“

„Nein, das ist auch gar nicht meine Absicht, Alles muß sich auf die ungezwungenste Weise machen,“ sagte tiefsinnig der Kanzleirath; „zu Visiten ist Zeit und Gelegenheit genug in Berlin, aber ich habe meine ganze Hoffnung auf eine scheinbar zufällige Begegnung im Bade gesetzt. Zch strebe nicht nach Ungebührlichem. Was ich will, kommt mir von Gott und Rechtswegen zu, aber ich möchte nicht förmlich und schriftlich darum einkommen; wenn man seine sechsundzwanzig Jahre gedient hat, sieht es besser aus, wenn so etwas Einem anscheinend freiwillig gewährt wird.“

„Darf man vielleicht wissen, was?“ fragte neugierig das Salzfaß.

„Zu seiner Zeit, verehrter Herr, zu seiner Zeit sollen Sie Alles erfahren, oder Sie sehen mich nie mehr wieder; bis dahin dringen Sie nicht in mich,“ sagte mit gedämpfter Stimme der Kanzleirath, drückte dem gutmüthigen Nachbar die Hand, berichtigte seine Schuld an den Zählkellner und verschwand aus dem Speisesaale.

Von da an war sein heißes Bestreben, Sr. Excellenz in den Morgenstunden näher zu kommen. Er stand pünktlich um vier Uhr auf, legte seinen schwarzen Frack an, zog den warmen Paletot darüber, jedoch so, daß die Klappe des Frackes mit dem Bande des rothen Adlerordens den loyalen Preußen verrieth, und lustwandelte von fünf Uhr an auf der Promenade. Um sechs Uhr erschien der Minister und eröffnete seinerseits das übliche Becherspiel.

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