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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

der schreibende Blinde von rechts nach links anfängt, seine Buchstaben zu stechen, weil er, nach vollendeter Schrift, das Papier umkehren muß, indem sich dann die Punkte erhaben zeigen. Sodann liest (oder vielmehr tastet) er von links nach rechts, wie jeder sehende Lesende.

Punktirschrift für Blinde von L. Baille.

Um die Blinden über die Benutzung, Hervorbringung und Einrichtung der Dinge belehren zu können, müssen sie vor Allem die Gestalt der Körper ohne Rücksicht auf ihren Stoff, sowie den Stoff und die Bestandtheile derselben ohne Rücksicht auf ihre Form kennen und unterscheiden lernen. Deshalb hat man ein sogenanntes „Allerlei“ angelegt, das aus den nur erdenklichsten Gegenständen besteht, um den Tastsinn zu üben und zu schärfen. Sorgfältig nachgebildete Thiere aller Gattungen, Fabrikate, Metalle, Gewebe u. s. w., kurz man findet hier eine Weltausstellung im Kleinen.

Wir verlassen nun den Schulunterricht, um uns zu den älteren Blinden zu begeben, die mit Korbmachen, Rohrstuhlflechten und Seiledrehen beschäftigt sind. Man sieht hier Geflechte vom ordinairsten Weidenkorbe bis zum kleinsten Luxuskörbchen, Schiffstaue, wie die feinsten Schnuren, und Netze, Matten und Decken aus dem gröbsten, heimischen Roggenstroh, wie aus dem Bast der fernen Cocosfrucht. Die Turnanstalt mit den umfassendsten Apparaten, wie die Seilerei befinden sich in dem Garten, der mit seinen vorzüglichen Anlagen das stattliche Gebäude umgibt. Eine immer frische Luft weht von den nahen Bergen herüber, deren Quellen die Anstalt mit dem gesündesten Trinkwasser versehen.

Ein Schreibender.

Der Zweck, die Grund-Tendenz der Anstalt, ist die Erziehung und Ausbildung erblindeter Personen zur Erwerbsfähigkeit; denn die größere Abhängigkeit von der Hülfe Anderer, die Hülfsbedürftigkeit des Blinden macht sein Unglück aus. Je weniger hülfsbedürftig also, desto weniger unglücklich ist er. Dies war der leitende Gedanke, der im Jahre 1809 den Privatgelehrten Immanuel Gottlieb Flemming, im Verein mit seiner Gattin, bewog, eine kleine Privatblindenanstalt zu gründen, die sich noch nicht über den Kreis einer Familie ausdehnte. Diese kleine Anstalt, von Jahr zu Jahr sich ausdehnend und an Bedeutsamkeit gewinnend, ging 1830 als Landesanstalt an die Staatsregierung über. Sie hat bereits ihr fünfzigstes Jahr vollendet und gehört unter die älteren in Deutschland, indem ihr nur die Anstalten in Wien vom Jahre 1804, in Berlin von 1806 und in Prag von 1808 vorangehen. Sie ist lediglich Bildungsanstalt für unheilbare (einheimische) Blinde; Heilung von blos augenkranken und vorübergehend blinden Personen, oder lebenslängliche Versorgung von hilfsbedürftigen, namentlich bildungsunfähigen Blinden schließt sie daher aus. Ihr ganzer Organismus ist auf Erziehung und Ausbildung unheilbarer Blinder zur Erwerbsfähigkeit berechnet.[1]

Korbflechterin.

Es besteht demnach in der Anstalt eine Elementarschule, in welcher blinde Kinder bis zur Confirmation in den gewöhnlichen Elementarfächern, so wie im Lesen und Schreiben fühlbarer Schrift unterrichtet werden. Für alle diese Unterrichtsgegenstände sind die nöthigen Hülfs- und Versinnlichungsmittel vorhanden und werden mit einem Erfolge in Anwendung gebracht, welcher die aus der Schule austretenden befähigten Zöglinge, soweit dies Blinden überhaupt erreichbar ist, an geistiger Bildung den aus den hiesigen Elementarschulen hervorgehenden Katechumenen als gleichstehend erscheinen läßt! Höhere wissenschaftliche oder künstlerische Bildung wird nicht angestrebt. Die Zöglinge treten daher nach Abschluß des Schulunterrichts in eine Arbeitsanstalt über, welche in eine Korbmacher-, Seiler- und Schuhmacherwerkstatt und eine Unterrichtsanstalt für weibliche Arbeiten sich spaltet. Für alle diese Beschäftigungen sind die nöthigen Lehrkräfte und Beschäftigungs-Apparate vorhanden. In diese Anstalt werden auch ältere,

  1. Alle wissenschaftlichen, technischen und administrativen Bemerkungen sind den besten vorhandenen Vorlagen entlehnt.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_429.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)