Seite:Die Gartenlaube (1860) 330.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

kein besserer Platz, als die beste Mitte auf der Hauptterrasse des sonnigen, heiteren, nobeln Krystall-Palast-Parkes.

Hier stand sie am 4. Mai Morgens dunkel verhüllt zwischen dem großen Heere riesiger weißer und bronzener Statuen und kolossaler Blumenvasen, umgeben von brillanten Farbenlichtern, stolzen Tulpen, Blumen und Blüthen des Frühlings im ersten, warmen, hellen Sonnenschein dieses wetterlich boshaften Jahres. Aber man beachtete sie noch nicht. Die Tausende und Abertausende, welche aus den stets von zwei entgegengesetzten Richtungen Londons heranbrausenden Eisenbahnzügen und Hunderten der brillantesten Equipagen herausströmten, schaarten sich in dem großen Haupttransept des Krystall-Palastes zusammen. Fünf Schillinge Entree, fünf Schillinge und zehn Schillinge extra für die reservirten Plätze, welche die ganze ungeheuere Fläche des Haupttranseptes einnahmen, außerdem die Haupt-Gallerien oben, und die meisten Plätze füllten sich. Man hatte etwa 20,000 Thaler ausgegeben, um das Fest zu formuliren, und strich an dem einen Tage seine 20,000 Thaler Netto-Gewinn ein.

So etwas ist nur in London möglich, nur in einem Krystall-Palaste, nur unter den hier zusammenwirkenden, ganz einzigen Bedingungen in der Welt. Finanzielle Anstrengungen und Ergebnisse waren nicht so großartig, wie beim Händelfeste, wo 120,000 Thaler Auslage einen Netto-Gewinn von 120,000 Thaler ergaben. Aber dies war Frucht jahrelanger Vorbereitungen und dreitägiger Riesenfeste. Die Mendelssohnfeier ging aus einigen Berathungen der Krystall-Palast-Directoren und drei Proben hervor.

Es ist kaum möglich, die Eindrücke einer solchen Scenerie und musikalischen Riesenhaftigkeit zu schildern. Von oben und von allen Seiten die neun Millionen Cubikfuß einschließende krystallene, bläuliche, ätherische Sonnigkeit mit dem architektonischen, farbigen Gewebe von Säulen, Pfeilern, Quer- und Längen-Balken – dieser riesige, verwirklichte Traum der kühnsten Feenmärchen-Poesie mit seinen unabsehbaren Reihen von Statuen, architektonischen Wundern aller Zeiten, botanischen, ethnologischen, zoologischen Gruppen und Scenen aller Zonen vereinigt hier in seinem bloßen Mittelgewölbe eine Blumenlese von 15,000 Menschen der englischen Hauptstadt, wobei unter diesem Hauptbogen selbst noch überall hinlänglicher Raum bleibt, so daß nirgends Enge und Gedränge bemerklich wird. Hatten doch hier an einem Händelfesttage 40,000 Menschen Raum gefunden. Die beiden Flügel des Hauptschiffes sind und bleiben ganz leer. Das ungeheuere Parterre unten füllt sich mit ätherischen Damenhüten aller Farben mit nur wenigen Filzen und Kahlköpfen dazwischen: ein Blumenbeet von Menschenköpfen. Es wird vor dem Orchester von einer Terrasse dichter, blühender Blumen und Sträuche begrenzt. Das Orchester selbst, allein größer, als irgend ein ganzer Concertsaal in der Welt, wölbt und krümmt sich hinauf in Form der innern Seite eines Kugel-Ausschnitts mit der Riesen-Orgel in der Mitte. Die mehr als 3000 Sänger, Sängerinnen und Instrumentalisten reihen sich in großen Kreislinien weit hinauf und in hohe, verschwindende Hintergründe bis 25 Fuß höher als die unterste Reihe. Die Sopran- und Alt-Abtheilungen treten weiß, heiter und blumig hervor gegen die schwarzen Tenor- und Baßregionen mit weißen Fleckchen (Handschuhen und Halstüchern).

Es ist drei Uhr. Die Sonne hat nie so heiter und warm geschienen. Alles strahlt, glänzt, flimmert und rauscht in murmelnder, lauschiger Erwartung. Die Solo-Helden und Heldinnen erscheinen unter vieltausendhändigem Handschuh-Geklappe, endlich Costa mit dem Zauberstabe, der diese ungeheueren Massen und die vielen Hunderte von Instrumenten entfesseln, regieren und die gedichteten Tonwogen des Meisters über diese glänzende Flora des Londoner Season-Publicums in kunstgerechten Strömen und Messungen ergießen soll. Ein Beifallssturm empfängt ihn und macht sofort einer feierlichen Stille Platz. Zwei scharfe Schläge mit dem Zauberstabe, der nun beinahe drei Stunden lang das Tongewoge der massenhaftesten Chöre, Soli, Duetts, Terzetts etc., das tönende, alttestamentliche Religions- und Geschichtsbild von Baal und den Israeliten und ihrem Propheten in unerhörter Majestät und Massenhaftigkeit aus der ihm bis auf die Viertel-Secunde gehorchenden Schaar hervorlockt und einem Publicum zum Genusse bietet, das zu würdigen und durch seine andächtige, feierliche, enthusiastische Theilnahme dem Feste die wahre Weihe und Wirksamkeit zu sichern weiß.

In unserer „Preß-Gallerie“ oben, dem Orchester grade gegenüber – einer ganzen, breiten, langen Gallerie und einem der besten Plätze, blos für die Presse – hatten wir für Augen und Ohren vor Tausenden den Vorzug, Einzelnheiten und Gesammteindrücke auf das Vortheilhafteste zu empfangen. Aber nur ein Kenner würde in einem musikalischen Blatte gebührend darüber berichten. Wir halten uns an das Ereigniß als solches und seine ehrenvolle Bedeutung für Deutschlands Kunst und Poesie, der hiermit – nach Händel und Schiller – zum dritten Male die großartigste Huldigung in der englischen Hauptstadt dargebracht ward. Die jammervollen „Größen“ in Politik und Staatlichkeit, denen sonst Völker in Festlichkeiten und Denkmälern huldigten, sind kaum noch im Stande, dann und wann bezahlte, commandirte, uniformirte Söldlinge für polizeilich arrangirte Festlichkeiten auf die Beine und zusammenzubringen. Den Genien des ewig Schönen, die Menschen ohne Ansehen des Standes und der Nationalität Erhebenden und Veredelnden werden aus freien, schönen Mitteln der Volksmassen Feste von beispiellosem Glanze und Umfange gefeiert. Dies ist von erfreulicher Bedeutung in unserer vielfach trostlosen Gegenwart und noch mehr für die Zukunft, deren große, Völker vereinigende Culturfeste hiermit vorbereitet werden mögen. Wie schön sind sie schon jetzt! Nicht mit dem warmen Blute eines Jünglings, sondern mit der beginnenden „Weißheit“ des Alters auf dem Kopfe, die einst die Senatoren-Greise Troja’s nicht abhielt, der Schönheit Helena’s, die ihnen so viel Blut und Thränen und endlich ihre ganze politische Existenz kostete, zu huldigen, bewunderte ich die classische, edle, oft beinahe ideale Schönheit der höheren Töchter Englands, die unter den Tausenden des Publicums gleichsam einen förmlichen Aether sonniger, blühender Anmuth und Würde verbreiteten und jede Möglichkeit des Rohen oder nur Unanständigen fern hielten. Ja sie sind schön, veredelnd schön diese Töchter der höheren und wirklich gebildeten Stände Englands – höhere Schichten über einer millionenfach wimmelnden Masse ekelhaftester, schmutzigster, verwahrloster, bestialischer Häßlichkeit. Wenn einst Cultur, Bildung und Wohlstand, der jetzt aus den Steuern der untern Massen für Wenige erpreßt und für die faulsten, barbarischsten Liebhabereien der Zehr- und Wehrclassen vergeudet wird, frei und gerecht unter allen Ständen und Völkern schaffen und wirken kann, werden alle Mädchen, alle Menschen, alle Völker schön werden und Anmuth, Würde, schöne Menschlichkeit um sich her ausstrahlen.

Der zweite Theil des Festes war deutsch. Die Statue draußen wurde in der Mitte deutscher Gesangvereine und Lieder enthüllt, wovon ich freilich in großer Entfernung, hinter dichtgedrängten Massen, wenig zu sehen und zu hören im Stande war. Das englische Publicum sprach aber hernach auf der „illuminirten Promenade“ im großen Schiffe mit viel Begeisterung von den deutschen Liedern. Die „illuminirte Promenade“ zog sich unter Hunderten von Sternen und Figuren, Tausenden von Gasflammen durch die ganze Länge des Krystall-Palastes zwischen Blumen, Bäumen, Vegetations- und Landschaftsgruppen, Statuen, Fontainen und der ganzen Zauberei der inneren Ausstattung hindurch. Die blassen Mondlichter spielten geisterhaft herein durch den krystallenen Aether der Wölbungen oben. Das war ein herrliches Wandern und Rauschen und Säuseln freudiger Familiengruppen, der Jugend, Liebe und Schönheit.

Draußen wurden inzwischen die Schlußscenen des Festtages vorbereitet, auf welche die Tausende auf den Außen-Gallerien und auf den Terrassen in Mondlicht und Abendroth freudig warteten: der deutsche Fackelzug, den die Engländer bei unserm Schillerfeste zuerst mit Staunen und Entzücken kennen gelernt hatten. Es war kein Zug durch enger Straßen Gedränge, sondern weit und breit hinauf aus den untern, versteckten Gründen des ungeheuern Parkhügels, aus welchem die Fackeln rothglühend wie aus der Erde in das bläuliche Mondlicht hervorwuchsen, sich in achthundertfachen Lichtern und Flammen ansammelnd, ausbreitend, reihenweise heranmarschirend, um sich endlich mitten im plätschernden Zauber der himmelhoch spritzenden, in unzähligen Lichter- und Farbentinten spielenden Fontainen um die Mendelssohnstatue zu gruppiren, wo sie unter Gesang und Posaunengeschmetter in einem ungeheuern Haufen zur dunkelglühenden Flammensäule aufloderten und in ihren Licht- und Farbenspielen mit dem ruhigen Monde um die Wette an den Millionen Krystall-Scheiben der großen Front des Krystall-Palastes freudig und Freude zurücklassend allmählich erstarben.



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_330.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)