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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Plötzlich erinnerten sich Einzelne der Anwesenden an jene Spielscene vor dreißig Jahren auf dem Balle. Diejenigen, die damals zugegen gewesen, erzählten sie den Andern; und als man lachend des Endes erwähnte, das sie genommen, und von jenem verschmähten Kusse sprach, erreichten einzelne der Worte das Ohr des Fürsten. Der Gedanke an jene Niederlage färbte sein Gesicht mit dunkler Röthe, und mit scharfem Blicke musterte er seine Gegnerin, die wieder wie einst über dem Spiel völlig ihre Umgebung vergaß.

Dan Glück, das Frau von R…g vor dreißig Jahren am grünen Tische so gänzlich geflohen, schien ihr an diesem Abende zu lächeln. Sie gewann fortgesetzt die höchsten Summen und stand nach Ablauf einer Stunde vermöge ihres gewagten Pointirens auf dreißigtausend und mehrere hundert Thaler.

Die Summe genügte ihr noch nicht. Sie wollte ihren ganzen damaligen Verlust ersetzt haben! – –

Daß sich das Glück nicht zwingen läßt, bewährte sich auch bei ihr in auffallender Weise. Es verließ die von ihm Begünstigte, als es gefesselt werden sollte. Frau von R…g fing an zu verlieren, und der Verlust machte sie noch leidenschaftlicher, als das Glück. Nun wollte sie erhaschen, was sich ihr entzog; aber immer weiter floh es von der, welche es mit krampfhafter Hast zu erreichen strebte.

Frau von R…g kam erst zur Besinnung, als sie den Fürsten um neue Summen anging und er, um sie aus dem Taumel blinder Leidenschaft zu reißen, scherzend fragte: „Wollen Sie Ihren Verlust bis zu der damaligen Größe treiben, Gnädigste?“

„Nein, o nein!“ rief sie entsetzt aufspringend, und hastig fügte sie hinzu: „Wie hoch beläuft sich meine Schuld?“

„Zwanzigtausend Thaler, verehrteste Frau Baronin!“

„Das ist ja furchtbar, schrecklich, gräßlich!“ sprach sie zitternd.

Fürst Blücher mußte unwillkürlich daran denken, mit welcher Seelenruhe sie als junge Frau das Doppelte verloren! –

„Zwanzigtausend Thaler!“ wiederholte sie langsam und bedeckte das bleiche Gesicht mit beiden Händen. Er entfernte die schöne, mit Ringen geschmückte Hand von ihren Augen und entdeckte mit Bestürzung, daß sie weinte.

„Gnädigste Frau!“ sprach er erschrocken und hastig.

Ein Hoffnungsstrahl durchzuckte die Seele der im Laufe der Jahre geizig und geldgierig gewordenen Dame. Sie blickte auf und sah den greisen Helden zärtlich an, dessen edelmüthige Sinnesart sie aus Erfahrung kannte.

Der alte Feldmarschall hielt diesen Liebesblick mehrere Minuten tapfer aus und gerieth nicht in die Versuchung, in welche der junge Rittmeister damals nach flüchtigster Anschauung ihrer glänzenden Augen gebracht worden.

Als die Freifrau sah, daß ihre Blicke nicht mehr die alte Macht besaßen, griff sie zu einem andern Mittel, um den Edelmuth des Fürsten zu erregen. Seufzend sagte sie: „Mein Gott, wie werde ich es nur anfangen, meinen Mann von diesem ungeheuern Verluste in Kenntniß zu setzen?“

„Ungeheuern Verlust, Frau Baronin? – Sie sagten einst, das Doppelte würde Sie nicht zu ärgern vermögen und eine solche Summe könne Sie nicht ruiniren, da Sie sehr reich wären.“

„Ja damals, Durchlaucht! Doch jetzt sind dreißig Jahre vergangen, und die Zeiten sind anders und schlimmer geworden.“

„Wie seltsam klingen diese Worte in Ihrem schönen Munde!“ rief der Fürst lachend.

„Schöner Mund!“ – Das Wort elektrisirte Frau von R…g von Neuem. Mit einem unendlich freundlichen – fast zu süßen Lächeln trat sie dem Fürsten einen Schritt näher und hauchte leise: „Entsinnen Sie sich, lieber Fürst, also noch jenes Abends, wo wir zusammen als junge Leute spielten? – O die köstliche Jugendzeit! –“

„Er wird mir unvergeßlich bleiben, Frau Baronin!“

Das Lächeln Frau von R…g’s sollte immer bezaubernder werden, es gestaltete sich aber etwas fratzenhaft um die eingesunkenen Züge des Mundes.

„Auch mir ist er unvergeßlich, Fürst!“ flüsterte sie zärtlich.

Die schmale, weiße Hand der Freifrau legte sich auf den Arm des Feldmarschalls. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, und seine Augen, die noch die Kraft besaßen, feurig zu strahlen, blickten nieder auf die zarten, schlanken Finger, die leicht seinen Arm drückten.

„Damals kränkten Sie mich tief, Frau von R…g.“

„O, ich weiß und – tausendfach habe ich es bereut!“

„Wirklich?“

„Ganz gewiß, und glücklich würden Sie mich machen, wenn Sie heute den einst verschmähten Kuß als Tilgung meiner Schuld annähmen!“

„Wie? – Sie wollten –“

„Gewähren, was Sie damals vergeblich wünschten!“

Frau von R…g näherte ihr Antlitz dem des Fürsten. Mit leichter Verbeugung wich er zurück und ernst sagte er: „Die Zeit der Jugend ist sammt ihren Thorheiten vorüber. Bedenken Sie, daß dreißig Jahre seitdem vergangen!“

„Wie? – Sie wollten “

„Verzicht leisten auf ein Glück, das mir einst nicht hold war, Frau Baronin!“

„Und meine Schuld? –“

„Bitte ich unterthänigst auf die Weise abzutragen, die Sie damals für allein passend erachteten.“

Eine fahle Blässe bedeckte das Gesicht Frau von R…gs; dann enteilte sie rasch dem Zimmer, und nichts in ihrem Wesen mahnte in dem Augenblick an die stolze Würde einer beleidigten Königin, mit der sie an jenem Abend den Spieltisch verlassen.

Ein lauter Applaus wurde dem alten Sieger zu Theil, nachdem sich die Thüre hinter der beleidigten Frau geschlossen.

Lächelnd verbeugte sich Blücher gegen die Anwesenden und heiter rief er: „Dies ist einer der glücklichsten Augenblicke meines Lebens und keiner meiner kleinsten Triumphe!“

Louise Ernesti.




Ein verschwundenes deutsches Lustschloß und die Vermählungsfeier des alten Fritz.

(Mit Abbildung, nach einer alten Zeichnung.)
„Die Stätte, die ein großer Mann betrat,

Ist eingeweiht, nach hundert Jahren klingt
Sein Wert und seine That dem Enkel wieder.“

Goethe.

Eine neue Ordnung hatte das neue Reichsgrundgesetz, der westphälische Friede, in Deutschland eingeführt. Es stand zwar noch ein Kaiser an dessen Spitze, aber dennoch ließ die gesteigerte Macht der unmittelbaren Reichsfürsten es mehr und mehr als einen Staatenbund erscheinen. Die alte, einfache, treuherzige Sitte, womit noch die Väter der Letztern Hof gehalten und wahrhaft patriarchalisch regiert hatten, fand nun keine Statt mehr. Die neue Ordnung erheischte, zum alten Ruhme des Fürstenhauses Pracht und Glanz zu gesellen in bis dahin kaum am Kaiserhofe selbst erhörten Maßen. Und da in diesem Zeitalter unbestritten Frankreich allen andern Staaten vorleuchtete durch verfeinerte Sitten, vervollkommnete Sprache, Institute für Wissenschaft und Künste, ausgezeichnete Dichter und Redner, überhaupt durch hohe Cultur und Gewerbfleiß, so kann es eben nicht verwundern, daß – fast mit alleiniger Ausnahme des preußischen – alle deutschen Höfe und besonders kunstsinnige Fürsten den französischen Sitten nacheiferten, wenn das auch kaum weniger zu beklagen ist, als daß sie zugleich sich mit beugen mußten vor Ludwig des Vierzehnten Macht, seit er die Garantie des westphälischen Friedens übernommen hatte. Zu den kunstsinnigsten, eifrigsten Freunden und Bewunderern des „großen Ludwig“ gehörte der Erbauer des Braunschweiger Versailles Salzdahlum, der unter den Schöngeistern seiner Zeit als Dichter und Romanschriftsteller bekannte Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Ein jüngerer Sohn des Herzogs August, des frommen und gelehrten Gründers der berühmten Bibliothek zu Wolfenbüttel, welcher Lessing von 1770 bis 1781

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_198.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)