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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

gekommen, sah hier nach sechszehnjähriger Trennung die Mutter wieder und schloß sich mit Vorliebe der ältesten Schwester an, deren seltene Begabung er sogleich erkannte. Bis zum Tode ist er ihr ein treuer Freund geblieben – er starb als Kanonikus in Köln und hatte sowohl als Dichter, wie als Gelehrter einen geachteten Namen erworben. Unter seinen Gedichten findet sich eines an die Schwester mit den wehmüthigen Schlußversen:

„O grüßte mich die Stunde noch einmal,
Wo, so wie damals in des Rheines Thal,
Als mit dem Schicksal grollend, fast vermessen,
An Deiner Seite sinnend ich gesessen
Und Dich, die Ruhmbekränzte glücklich hieß –
Dein Herz jedoch nur Wünsche eng gemessen
Und schlichten Lebens stille Tage pries!“

Und noch im Jahre 1839 schrieb er ihr:

„Cöln, den 16. März.

„Meine liebe Schwester Minna! Nachdem ich nun – zur schlimmen Jahreszeit vielfältig von meinen Körperleiden heimgesucht – dennoch glücklich überwintert habe, so wende ich mich mit herzlich brüderlichem Frühlingsgruß auch an Dich, liebe Minna, und danke Dir auf’s Innigste für alle die Erleichterung und Pflege, die ich mir nun während zwei Jahren durch Deine schwesterliche Güte konnte angedeihen lassen; möge der Himmel Dir diese und all Deine große Herzensgüte vergelten, wie Du es verdienst, wie es das, was Dich wahrhaft glücklich machen kann, erheischt. Mit besorgender Theilnahme las ich häufig von Deinem Unwohlsein, bald darauf aber auch wieder von dem begeisterten Zuruf, der Dich bei Deinen stets neuen Kunstschöpfungen empfing; so ringst Du Dich durch das, was Dein innerstes Leben ist, immer wieder los von der hemmenden Fessel trauriger Wirklichkeit!“

1819 debütirte die fünfzehnjährige Wilhelmine im Schauspiel. Mit immer steigendem Beifall gab sie Aricia in der Phädra, Melitta in der Sappho, Louise in Kabale und Liebe, Beatrice in der Braut von Messina, Ophelia im Hamlet. Zugleich trat aber auch ihre musikalische Begabung immer deutlicher hervor; ihre Stimme entwickelte sich stark und schön; sie nahm Unterricht bei Madame Grünbaum und Joseph Mozatti, und es verging nicht mehr als ein Jahr, bis sie dem unwiderstehlichen Drange folgen konnte, der sie trieb, das Drama mit der Oper zu vertauschen.

Sie trat zunächst als Pamina in der Zauberflöte auf – es war am 20. Januar 1821. Die „allgemeine musikalische Zeitung“ sagt darüber in dem verschnörkelten Style jener Zeit:

„Demoiselle Schröder realisirte ein vollständiges Bild der zartesten Weiblichkeit. So lange dieser vom Dichter so schwankend gezeichnete Charakter mit eben so viel Unbestimmtheit auf unserer Bühne gegeben wurde, gelang es vielleicht noch nie einer Mime, der prosaischen Poesie eine rein idealisch-poetische Seite abzugewinnen, wie dieser hoffnungsvollen Schülerin einer auf die höchsten Stufen der Meisterschaft gelangten Mutter, die den nicht alltäglichen Beweis lieferte, wie unglaublich ein so ganz gemeiner Dialog durch Sinn, Natur und Gefühl veredelt werden könne.“

Und diese Sängerin, deren erster Versuch für alle Darstellerinnen der Pamina als Muster hingestellt wird, war ein Kind von 16 Jahren. Ein Lieblingskind des Himmels freilich, ausgestattet mit der herrlichsten Stimme, der anmuthigsten Gestalt, den edelsten, ausdrucksvollsten Zügen, der Kopf von einer Fülle blonder Locken umwallt, das blaue Auge ebenso schön in träumerischer Ruhe, wie im Leuchten der Leidenschaft, und über der ganzen Erscheinung jener unbeschreibliche Duft von Poesie, jene sonnenhafte Wärme, welche die Kunst ihren Auserwählten verleiht. Dazu die Gabe, für jeden Gedanken und jedes Gefühl in Wort und Blick, in Ton und Bewegung den schönsten und gewaltigsten Ausdruck zu finden – – es war natürlich, daß ein Schrei des Entzückens dies wunderbare Wesen begrüßte.

Aber sie ließ sich nicht blenden, nicht irren. Mit ernstem Fleiß, beharrlich und bescheiden verfolgte sie den Weg, den sie so glücklich betreten hatte. Schon im März gab sie die Emmeline in der Schweizer-Familie, einen Monat später die Marie in Gretry’s Blaubart, und als Weber’s Freischütz zum ersten Male in Wien gegeben werden sollte, wurde die Agathe Wilhelminen Schröder anvertraut.

Am 7. März 1822 wurde der Freischütz, der ganz Wien in einen Freudenrausch versetzt hatte, zu Wilhelminens Benefiz zum zweiten Mal gegeben. Das Haus war zum Erdrücken voll, der Enthusiasmus – selbst für das enthusiastische Wien – ein beispielloser. Weber dirigirte seine Oper selbst, aber der Jubel seiner Verehrer hätte die Aufführung fast unmöglich gemacht. Viermal wurde der Meister auf die Bühne gerufen, mit Blumen und Gedichten überschüttet, und zum Schluß fiel ein Lorbeerkranz zu seinen Füßen.

Wilhelmine-Agathe theilte den Triumph des Abends. Das war die blonde, reine, sanfte Jungfrau, die Componist und Dichter geträumt hatten; das einfache schüchterne Kind, das vor Träumen zittert, sich in Ahnungen verliert, aber in Liebe und Glauben Kraft findet, alle Mächte der Hölle zu überwinden. Weber sagte: „Sie ist die erste Agathe der Well und hat Alles übertroffen, was ich in die Rolle hineingelegt zu haben glaubte.“

Als Beweis, wie ganz Kind sie damals noch gewesen, erzählte Wilhelmine oft, daß sie am andern Morgen, als Weber gekommen war, um ihr zu danken, der Länge nach auf dem Fußboden der Kinderstube gelegen hatte, eifrig beschäftigt mit ihren jüngern Geschwistern Soldaten aufzustellen. „Ich wurde abgestäubt, die Haare wurden mir glatt gestrichen, Schürze und Halstuch zurecht gezupft,“ pflegte sie zu sagen; „dann führte man mich zu Weber, der mich mit Lobsprüchen überhäufte und mir versprach, eine neue Oper für mich zu schreiben. Ich weinte vor freudiger Rührung, war aber herzlich froh, als er ging, sodaß ich zu meinem Spielzeug zurückkehren konnte.“

Auch in Dresden, wohin Wilhelmine im Sommer 1822 mit ihrer berühmten Mutter ging, erregte ihre Schönheit wie ihr Talent allgemeine Bewunderung, – aber das, was sie zur größten Sängerin aller Zeiten machen sollte, der unwiderstehliche Zauber, die Gewalt ihres Genius offenbarte sich zum ersten Male, als sie, nach Wien zurückgekehrt, den Fidelio sang.

Die Oper war seit einiger Zeit zurückgelegt, weil es an einer Darstellerin für die Hauptrolle fehlte. Im November 1822 sollte sie zur Namenstagsfeier der Kaiserin zum ersten Male wieder gegeben werden, und der siebzehnjährigen Wilhelmine wurde die schwere Rolle des Fidelio übertragen.

Als es Beethoven erfuhr, soll er sich sehr unzufrieden darüber ausgesprochen haben, daß diese erhabne Gestalt „einem solchen Kinde“ anvertraut wäre. Aber es war einmal bestimmt; Sophie Schröder studirte der Tochter die schwere Partie so gut als möglich ein, und die Proben nahmen ihren Fortgang.

Beethoven hatte sich’s ausbedungen, die Oper selbst zu dirigiren, und in der Generalprobe führte er den Tactstock. Wilhelmine hatte ihn nie zuvor gesehen – ihr wurde bang ums Herz, als sie den Meister, dessen Ohr schon damals allen irdischen Tönen verschlossen war, heftig gesticulirend, mit wirrem Haar, verstörten Mienen und unheimlich leuchtenden Augen dastehen sah. Sollte piano gespielt werden, so kroch er fast unter das Notenpult, beim forte sprang er auf und stieß die seltsamsten Töne aus. Orchester und Sänger geriethen in Verwirrung, und nach Schluß der Probe mußte der Capellmeister Umlauf dem Componisten die peinliche Mittheilung machen, daß es unmöglich wäre, ihm die Leitung seiner Oper zu überlassen.

So saß er denn am Abend der Aufführung im Orchester, hinter dem Capellmeister und hatte sich so tief in seinen Mantel gehüllt, daß nur die glühenden Augen daraus hervor leuchteten. Wilhelmine fürchtete sich vor diesen Augen; es war ihr unaussprechlich bang zu Muth. Aber kaum hatte sie die ersten Worte gesprochen, als sie sich von wunderbarer Kraft durchströmt fühlte. Beethoven, das ganze Publicum verschwand vor ihren Blicken – alles Zusammengetragene, Einstudirte fiel von ihr ab. Sie selbst war Leonore, sie durchlebte, durchlitt Scene auf Scene.

Bis zum Auftritt im Kerker blieb sie von dieser Illusion erfüllt – aber hier erlahmte ihre Kraft. Die Größe ihrer Aufgabe, die sie erst diesen Abend während des Spiels erkannt hatte, stieg riesenhaft vor ihr auf. Sie wußte jetzt, daß ihre Mittel für das, was sie in dem nächsten Momente darstellen sollte, nicht ausreichten. Die steigende Angst drückte sich in ihrer Haltung, ihren Mienen, ihren Bewegungen aus – aber das Alles war der Situation so ganz angemessen, daß es auf das Publicum die erschütterndste Wirkung übte. Ueber der Versammlung lag jene athemlose Stille, die ebenso mächtig auf den darstellenden Künstler wirkt, wie laute Beifallszeichen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_186.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)