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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

vorgeschriebene einfache Kleidung tragen. Auf Reinlichkeit, Ordnung und Pünktlichkeit wird sorgfältig gehalten, und jeder Ungehorsam, sowie jede Lüge ernstlich gerügt und unter Umständen angemessen bestraft. Als das einzige rechte Mittel, von Sünden frei zu werden, sehen wir aber immer die wahre Herzensbekehrung an, und obwohl eine strenge Zucht für solche Personen, die nie an Zucht und Ordnung gewöhnt wurden, durchaus nothwendig ist, suchen wir doch bei aller Strenge überall die Liebe hervortreten zu lassen und uns vor gesetzlichem Methodismus zu hüten.“

„Sie haben von strengen Strafen gesprochen, Frau Oberin,“ unterbrach ich ihre Rede, „worin bestehen denn diese? Wenden Sie hier auch Schläge an, wie in allen Zuchthäusern und Besserungsanstalten? Gehen Sie auch von der Idee aus, daß das Menschenherz ohne Stockschläge keiner Besserung fähig ist?“

„O nein,“ gab die Frau mit lächelnder Miene zur Antwcrt; „hier waltet die Liebe in ihrer Barmherzigkeit, und nicht der Stock. Geschlagen wird hier nie. Wir haben oben im Hause eine Bodenstube – Sie sollen sie sehen, mancher Proletarier wohnt mit Frau und Kindern sein Lebelang in einer solchen Stube, – das ist unser Gefängniß, und die Gefängnißstrafe besteht darin, daß ein Mädchen, bei der alle Ermahnung und alle Liebe nichts hilft, dort oben einige Tage allein wohnt und allein schläft. Ich selbst bringe ihr dann Morgens, Mittags und Abends das Essen und nehme sie dann zu mir in das kleine Zimmer neben meinem Schlafzimmer, das Sie so eben gesehen haben.“

„Wann werden denn die Mädchen entlassen, und bleiben Sie mit ihnen auch nach ihrer Entlassung in einer Verbindung, um sie weiter zu beaufsichtigen und auf sie zu wirken?“

„Allerdings. Die Mädchen werden gewöhnlich nach zwei Jahren entlassen. Sie müssen sich aber nicht denken, daß sie gezwungen sind, zwei Jahre hier zu bleiben. O nein, gehen kann Jede, wenn sie will. Sie kommen freiwillig und gehen freiwillig. Das Haus der Büßerinnen ist keine Gefangenenanstalt. Auch beweisen fast Alle, die als gebessert entlassen sind, noch fortwährend Anhänglichkeit und Liebe zur Anstalt. Wir verschaffen ihnen dann durch unsere Verbindungen einen Dienst, bei Bekannten in der Stadt, aber am liebsten auf dem Lande, bei Predigern und Gutsbesitzern. Sie werden aber nur in solche Häuser gegeben, wo wir sie sorgfältig beobachtet und unter dem Einflüsse einer strengen Moralität wissen. Sie erhalten ihre Kleidung und ihre ganze Ausstattung für den Dienst von der Anstalt, und da ihr Lohn an dieselbe ausgezahlt und ihnen bewahrt wird, verdienen sie auch ihre Ausrüstung bald ab, und haben nach Ablauf der Zeit noch etwas erspart. Wir haben ein Mädchen hier im Stift gehabt, die sich hernach in ihrem Dienst über zweihundert Thaler erspart hat. Jetzt ist sie gut und glücklich verheirathet. Auch sind sie verpflichtet, wenn sie in unserer Nähe bleiben, wenigstens alle vierzehn Tage zum Gottesdienst in die Anstalt zu kommen. Zur Abendmahlsfeier kommen sie aus der Ferne halbjährlich. Wenn sie aber während der ersten Jahre erkranken, oder sich etwas zu Schulden kommen lassen, werden sie vorläufig wieder in die Anstalt zurückgenommen. Hier, lesen Sie die Bedingungen für die Herrschaften, welche Mädchen aus dem Magdalenenstift in Dienst nehmen.“

Mit diesen Worten überreichte die Frau Oberin mir ein gedrucktes Blatt, und ich las:

„Die Herrschaften verpflichten sich, die Mädchen vor sittlichen Gefahren möglichst zu behüten. Zu dem Ende ist den Mädchen alle Theilnahme an öffentlichen Vergnügungen und jeder andere Verkehr, als der mit der Anstalt selbst oder ein von derselben erlaubter, zu untersagen.

„Die Herrschaften zahlen den Lohn und etwaige Geldgeschenke der Mädchen vierteljährlich an die Anstalt. Die Mädchen dürfen durchaus kein Geld in Händen haben, und müssen auch das als Geschenk empfangene der Herrschaft übergeben. Ebensowenig dürfen sie ohne Wissen der Herrschaft Briefe absenden oder annehmen.

„Die in Berlin und der Umgebung wohnenden Herrschaften schicken die Mädchen mindestens alle vierzehn Tage zu dem Vormittagsgottesdienst, und wenigstens zweimal im Jahre zur Beichte und zum heiligen Abendmahl, wenn irgend möglich, für einen ganzen Tag, in die Anstalt; außerdem einmal in jedem Monat Sonntags Nachmittags und Abends und zweimal im Jahre an Festtagen der Anstalt. Die entfernter wohnenden Herrschaften lassen die Mädchen möglichst oft, mindestens jeden zweiten Sonntag, zur Kirche gehen, und geben ihnen zweimal im Jahre, um das heilige Abendmahl in der Anstalt zu feiern, zwei freie Tage.

„Wegen der Kündigung und Entlassung der Mädchen haben die Herrschaften sich nur an die Anstalt zu wenden. Wenn die Entlassung vor Ablauf der Wiederzugsfrist nothwendig ist, müssen die Mädchen der Anstalt überliefert werden. Bei Abwesenheit der Herrschaften oder in Krankheitsfällen können dieselben der Anstalt gegen eine billige Vergütigung übergeben werden.“

„Welche Resultate haben denn Ihre Bemühungen?“ fragte ich und gab der Oberin des Büßerinnenhauses das Blatt zurück. „Sind sie Ihren Wünschen entsprechend?“

„Meinen Wünschen entsprechend? Nein. Aber befriedigt würde ich sein, wenn ich jährlich nur ein einziges dieser elenden und verkommenen Geschöpfe retten könnte. Nach den Erfahrungen, welche ich hier gemacht habe, würden unsere Anstrengungen bei einem Drittel der Mädchen Früchte tragen, wenn Alle zwei Jahre hier blieben. Leider ist dies nicht der Fall, und so kann ich auch als Durchschnittszahl nicht ein Drittel annehmen. Wir erhalten hier die verwahrlostesten und elendesten Geschöpfe von der Welt, körperlich gänzlich ruinirt, moralisch auf’s Tiefste gesunken. In ihrer Seele toben alle schlechten Leidenschaften. Nur eine Eigenschaft haben sie nicht, die Demuth und den Gehorsam. Eitel, neidisch, zänkisch, unbändig, roh bis zum höchsten Grade, sind sie zuerst allen Ermahnungen und Bitten abhold. Ihre Seele muß erst durch die Liebe und durch die Religion gezähmt werden, bis wir bei ihr Eingang finden. Der Standpunkt der geistigen Bildung der Mädchen ist meistens gleich Null. Wir müssen alle Keime erst pflanzen und wecken, um darauf irgend eine Besserung zu gründen. Es werden uns oft Mädchen von dreizehn bis funfzehn Jahren gebracht, die von ihren Eltern und Vormündern schon gänzlich aufgegeben sind. Das Krankenhaus und das Gefängniß schickt uns die verworfenstes Geschöpfe, welche jede Stufe der geistigen und körperlichen Schande hinabgestiegen sind, und doch tragen unsere Bemühungen gerade bei ihnen oft die besten Früchte. In der That hat mancher dieser Unglücklichen niemals Jemand sich in rechter Liebe angenommen. Viele von ihnen sind von rohen und verkommenen Eltern, häufig von Stief- und Pflegeeltern, – manche haben wenigstens einen Vater niemals gekannt – von Kindheit an verdorben und ohne Erziehung, ohne alle Anweisung zur Arbeit und Ordnung im Elende aufgewachsen und schon früh zu der Sünde angeleitet worden. Soll es mir da nicht eine große Freude machen, wenn ich ein solches unseliges Geschöpf einem reinen und sittlichen Leben wieder zuführe, wenn ich ihre tiefgesunkene Seele aus dem Sumpf dieses Lebens errette? O, ich erlebe oft große Freude mit diesen Mädchen. Noch gestern erhielt ich einen Brief von Einer, welche jetzt schon mehrere Jahre von hier entlassen und bei einer befreundeten Gutsbesitzerfamilie im Dienst ist. Wie habe ich mich über diesen Brief gefreut! Sie war ein schönes, reizendes Geschöpf, tief gesunken, unbändig, voll schlechter Leidenschaften, und doch ist sie so brav, so vortrefflich geworden. Zu meinem großen Schmerze muß ich Ihnen freilich gestehen, daß oft alle Bitten und Bemühungen vergeblich sind. Niemand ist hier unfreiwillig. Jedes Mädchen kann gehen, sobald sie will. Die Thüre, durch welche Sie in unser stilles Haus getreten sind, steht Jeder offen. Ist sie gegen alle Vorstellungen des Predigers taub, setzt sie allen meinen Ermahnungen und Bitten Widerstand entgegen, so halten wir sie keine Stunde mehr fest. Nur die christliche Liebe soll die Mädchen mit diesem Hause verbinden, niemals der Zwang.“

So sprach die Oberin des Hauses der Büßerinnen und erhob sich. Die innere Erregung, mit der sie von den Freuden und Leiden ihres Hauses sprach, hatte ihr blasses Gesicht leicht geröthet. „Wollen Sie jetzt unser Haus und die Mädchen sehen, meine Herren?“ sagte sie, und bejahend standen wir auf. Von dem Treppenflur führte eine andere Thüre in ein Arbeitszimmer der Mädchen. Es war freundlich, warm und hell. Die Aussicht ging auf den Garten und das Feld. Um einen Tisch saßen sechs junge Mädchen, alle, wie es schien in dem Anfang der zwanziger Jahre, alle gesund, frisch und heiter aussehend, mehrere von sehr hübschen Gesichtszügen. Als wir eintraten, standen sie alle auf. Zerschnittene Kleiderstoffe lagen auf dem Tische, vor dem Tische saß eine junge Dame, in die Tracht der Helferinnen des Hauses gekleidet; sie trug ein schwarzes wollenes Kleid und eine weiße Schürze mit Brustlatz. Sie hatte ein Buch in der Hand, aus dem sie den Mädchen vorgelesen hatte. „Es gehen nächstens zwei von meinen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_089.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)