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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

In diesem Augenblicke wurde die Thür geöffnet.

„Gnädiges Fräulein, sind Sie hier?“ fragte das Kammermädchen. „Die gnädige Frau wünscht Sie zu sprechen.“

„Ich komme,“ antwortete Eva, nahm Lothars Arm und ging mit ihm zur Mutter hinüber.




II.

Die Generalin von Hersenbrook war eine kleine, zierliche, blonde Frau, die mit sanften blauen Augen in’s Leben sah, im sanftesten Tone sprach und sich immer so auszudrücken pflegte, als wiederholte sie nur die Urtheile Anderer oder wäre doch jeden Augenblick bereit, sich selbst und ihre Meinungen besserer Einsicht unterzuordnen. Aber unter dieser weichen, schmiegsamen Außenseite verbarg sich viel Eigensinn, viel Herrschsucht und eine große Widerstandskraft. Während Frau von Hersenbrook dem Anschein nach jedem äußern Einflusse nachgab, verlor sie das, was sie erreichen wollte, keinen Moment aus den Augen, und während sie auf tausend Umwegen ihrem Ziele zusteuerte, wußte sie mit bewundernswürdiger Feinheit jeden Zusammenstoß mit fremden Interessen zu vermeiden. „Ich will nicht,“ sagte sie niemals, und wenn sie – was sehr häufig vorkam – die Wünsche und Erwartungen Anderer nicht erfüllte, war sie selbst so unglücklich über das „Nichtkönnen,“ daß der Zurückgewiesene sich noch Vorwürfe darüber machen mußte, der guten Hersenbrook diesen Schmerz bereitet zu haben.

Mit ihrer Tochter sympathisirte die Generalin nicht. Eva hatte des Vaters geraden Sinn, seine Wahrhaftigkeit und Güte geerbt, war aber viel scharfsichtiger als er und wenigstens eben so fest wie die Mutter. Wer zum ersten Male in ihr stilles Gesicht, in ihre klaren, hellbraunen Augen sah, hielt sie vielleicht für kalt oder gar für hochmüthig, aber sie war nur stolz und etwas scheu, bis sie Wärme und Verständniß gefunden hatte. Wo sie es fand, schloß sie sich innig und enthusiastisch an. Sie war überhaupt so entschieden in ihren Neigungen und Abneigungen, so unbeugsam in dem, was sie für Recht erkannte, und trotz aller Feinheit der Form so unfähig, sich zu verstellen, daß die Generalin ihren Intimsten seufzend vertraute: „Ich fürchte, sie hat etwas Unweibliches in ihrem Charakter.“

Diese Besorgniß wuchs, als Eva nicht allein für jede Schwärmerei unempfindlich blieb, die sie erweckte, sondern auch Partien ausschlug, nach denen Hunderte von Müttern für ihre Töchter seufzten. Ehrerbietig, wie immer, hatte sie bei solchen Gelegenheiten die Klagen und Vorstellungen der Generalin angehört, aber nichts war im Stande gewesen, sie umzustimmen. In ihrer ruhigen, festen Weise hatte sie immer und immer wieder erklärt, sie wäre zufrieden in ihren Verhältnissen und könnte sich zu einer Ehe ohne Liebe nicht entschließen.

Nun war freilich die Liebe gekommen, aber nicht zur Freude der Generalin. Die Guntershausen waren ein stolzes, trotziges, wildes Geschlecht, das fast immer mit seinen Standesgenossen in Feindschaft lebte und sich sogar bei mehr als einer Gelegenheit gegen den Landesherrn aufgelehnt hatte. Darum standen sie ganz isolirt, hatten gar keinen Einfluß bei Hofe und hatten seit Menschengedenken in einer Art freiwilliger Verbannung auf ihren Gütern gelebt. Lothar, der letzte Repräsentant des alten Namens, hatte die einsiedlerischen Neigungen seiner Vorfahren im höchsten Maße geerbt. Die Menschenscheu war bei ihm fast zur Krankheit geworden, und so mußte Eva durch eine Verbindung mit ihm für die Gesellschaft ganz verloren gehen – das größte Unglück, das sich Frau von Hersenbrook denken konnte.

Darum dachte sie, seit sie den Herzenszustand der Tochter erkannt hatte, unablässig darüber nach, wie sie Lothar und Eva trennen könnte, ohne ihre Absicht zu verrathen. Daß sie im offenen Kampfe unterliegen würde, sah sie voraus, aber wenn sie vorsichtig zu Werke ging, war’s vielleicht möglich, das unheilvolle Band zu lösen. In dieser Hoffnung hatte sie schnell den Vorwand ergriffen, den ihr der Unfall des Inspectors bot, um die Rückkehr nach Eichberg zu beschleunigen. Dort hatte das tägliche Zusammensein mit Lothar ein Ende; Eva wurde durch neue Arbeiten und Interessen in Anspruch genommen; alte Gewohnheiten behaupteten ihre Rechte; der alte Kreis versammelte sich wieder um die Generalin, und gewiß hielt sich Guntershausen von diesem Leben und Treiben fern, das ihm eben so unbehaglich als thöricht erscheinen mußte.

Das Alles sagte sich Frau von Hersenbrook, während sie, auf die Rückkehr des Grafen wartend, im Zimmer auf- und abging. Dazwischen umgaukelten sie die Bilder langentbehrter Freuden und sie athmete erleichtert auf bei dem Gedanken, daß sie bald diesem düstern Hause, dieser einförmigen Lebensweise und den unerträglich ernsthaften, melancholischen Unterhaltungen ihres Wirthes entronnen sein würde, um in die heiteren Regionen der Diners, Soupers und Whistpartien zurückzukehren. Plötzlich wurde die Thüre aufgerissen und der Graf trat ein.

„Endlich, lieber Lothar!“ rief ihm die Generalin entgegen. „Ich stehe wie auf Kohlen.“ – Aber nun hörte sie das Rauschen eines seidenen Kleides, Eva trat mit dem Verlobten in den Kreis des Lichtes, und ihr glühendes Gesicht, ihre strahlenden Augen verriethen der Mutter, was geschehen war, noch ehe Lothar seine Bitten und Wünsche ausgesprochen hatte. So war denn Alles zu spät! Die Generalin war im höchsten Grade bestürzt und kaum im Stande, ihre Fassung zu behaupten. Als sie die Tochter mit den Worten: „der Himmel möge Alles zum Besten wenden!“ in die Arme schloß, lag mehr Sorge, als Hoffnung in ihrem Blicke, und trotz aller Bitten des Grafen bestand sie darauf, nach Eichberg zu fahren. Sie wollte Zeit gewinnen, ehe sie ein Versprechen gab; vielleicht fand sich noch ein Ausweg.

„Daß wir länger hier blieben, würde sich nun gar nicht schicken,“ sagte sie in ihrer ängstlichen Weise. „In Eichberg werden wir erwartet, der Wagen ist angespannt, es wäre also nur eine kurze Verzögerung des Abschiedes. Laßt uns fahren, Kinder; es ist für uns Alle gut, wenn wir in Ruhe über das Geschehene nachdenken. Also mach’ Dich fertig, Eva, und komm.“

Damit hatte sie auch Lothars Begleitung zurückgewiesen. Während Eva in’s Vorzimmer ging, um ihren Mantel zu holen, sagte der Graf: „Du bist unzufrieden, Tante; Du hast etwas gegen mich.“

Sie schlug die sanften, blauen Augen zu ihm auf. „Wie mißtrauisch Du nun wieder bist!“ klagte sie; „was soll ich gegen Dich haben, bester Lothar?“

„Hast Du unsere Verlobung etwa mit Freuden begrüßt?“ fiel er ihr in’s Wort. „Hast Du nun die erbetene Einwilligung gegeben?“

„Kann ich’s denn?“ fuhr sie in demselben klagenden Tone fort. „Du weißt doch, daß wir in allen Dingen Tante Ernestine um Rath fragen müssen. Oder hast Du etwa schon mit ihr gesprochen?“ fügte sie hinzu, indem sie ihn forschend ansah. „Ist sie mit Deiner Wahl zufrieden?“

Lothar schüttelte den Kopf. Er wurde sehr bleich, und die Generalin erschrak vor dem Ausdrucke seiner Mienen, als er ihre Frage verneinte.

„Mit meiner Wahl,“ fügte er nach einer Pause hinzu, „ist sie jedenfalls zufrieden, aber ich weiß nicht …“ Er verstummte und wendete sich ab.

In diesem Augenblicke kam Eva wieder. Ihr liebevoller Blick schien Lothar zu beruhigen, seine Hoffnungen zu beleben.

„Wann darf ich kommen?“ fragte er, indem er die Hand seiner Braut an die Lippen drückte.

„Morgen,“ erwiderte sie. „Nicht wahr, Mama, morgen Abend? Dann sind wir gewiß schon ganz in Ordnung.“

Aber die Generalin hörte die Frage nicht oder wollte sie nicht hören.

„Laßt uns gehen!“ sagte sie, zog den Shawl zusammen, nahm des Grafen Arm und ließ sich an den Wagen hinunter führen. Da standen die Diener mit Lichtern, der alte Joseph kam, um seinen unterthänigsten Abschiedsgruß zu sagen, die Mägde liefen geschäftig hin und her. Lothar fand kaum Zeit, seiner Eva ein flehendes „Bleib’ fest!“ zuzuflüstern, und sie konnte ihm nur die Hand drücken und ihm in die Augen sehen, die schon wieder so starr und düster blickten – dann zogen die Pferde an, und der Wagen rollte zum Schloßthore hinaus, weiter und weiter in den grauen Abendnebel hinein.

Eine Weile saßen Mutter und Tochter schweigend neben einander. Aber Eva war das Herz zum Ueberströmen voll, sie mußte sich aussprechen, rückte der Generalin näher, suchte ihre Hand zu fassen und fragte:

„Was denkst Du, Mütterchen? Du bist so still.“

Frau von Hersenbrook seufzte tief.

„Ich bin bekümmert,“ antwortete sie, „und mache mir Vorwürfe.“

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