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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Zunge wie gelähmt und ihre Kniee knickten zusammen, daß sie, um nicht ganz umzusinken, sich am Thürgerüst anklammern mußte.

Die Schwäche dauerte aber nur einen Augenblick; ebenso schnell als Rosel von dem Eindrucke überwältigt worden war, durchzuckte und richtete sie der Gedanke wieder auf, daß sie sich zusammennehmen und einen Entschluß fassen müsse. Vom Erdgeschosse herauf erscholl fortwährend das drohende Durcheinanderrufen wüster Stimmen, immer seltener von den Klagelauten des Bauers und der Bäuerin unterbrochen, die also schon überwältigt sein mußten. Sie begriff rasch, daß ein Angriff oder Vertheidigungs-Versuch von ihr ganz erfolglos sein und nur mit ihrer eigenen Verwundung oder Tödtung enden würde; sie dachte daher auswärtige Hülfe herbeizurufen. Das Brandl-Gut lag zwar als Einöde auf dem Hügel, und das nächstgelegene Haus war mindestens eine halbe Viertelstunde entfernt; aber wenn es nur gelang, ein Nothzeichen zu geben, so war dieses vielleicht im Stande noch rechtzeitig Hülfe herbeizurufen, oder es konnte doch die Räuber erschrecken und verscheuchen. Eine qualvolle Minute verging unter vergeblichem Brüten, während dessen Rosel und der Wache haltende Mann einander laut- und regungslos gegenüber standen.

Jetzt fiel Rosel das Glöcklein ein, das auf allen Bauerhäusern in der Gegend in einem kleinen Thürmchen angebracht ist, um die weit im Felde zerstreuten Arbeiter zum Essen herbeizurufen. Wenn es ihr gelänge die Glocke zu läuten, so war es möglich, daß die Nachbarn das bei Nacht ganz ungewöhnliche Geläut hören und herbeikommen würden! Aber um zu dem Orte zu kommen, wo das Zugseil herabhing, mußte sie an der Stiege und dem dort stehenden Mann vorüber, und es war gewiß, daß er bei der ersten bedenklichen Bewegung sie zu Boden schlagen werde.

Unter den Wimpern hervorlauernd betrachtete sie ihn jetzt genauer, und es entging ihr nicht, daß er sie nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit beobachtete, sondern zum Theil nach dem hinhorchte, was unten an der Treppe im Erdgeschosse vorging. „Da unten wären wir fertig,“ rief eine grobe Stimme herauf, der man es anhörte, daß sie der Verstellung wegen gewaltsam hinabgedrückt war. „Jetzt wollen wir droben das Nest ausleeren. Wie steht’s droben?“

„Ganz gut,“ erwiderte der Wächter ebenfalls mit verstellter Stimme, das rußgeschwärzte Gesicht nach der Stiege richtend. „Es ist kein Mensch da, als die Dirn’, und die rührt sich nicht!“

Rosel fühlte, daß der entscheidende Augenblick gekommen sei; was geschehen sollte, mußte geschehen, eine Secunde später war es unmöglich und unnütz. „Heilige Mutter von Oetting, steh’ mir bei,“ murmelte sie fieberhaft zitternd vor sich hin, dann raffte sie sich gewaltsam auf und stürzte sich mit ihrer ganzen Kraft auf den nichts befürchtenden Räuber. Mit einer geschickten Bewegung unterlief sie ihn, daß er das Gleichgewicht verlor und unter Poltern und Fluchen rücklings die Stiege hinabstürzte. Im Fluge war sie den Hausgang entlang geeilt und hatte die Thüre entriegelt, die auf die offne Gallerie führt, die nach dortiger Sitte an keinem Hause fehlt. Dort, in der Ecke gegen den angebauten Stadel zu, hing das Zugseil des Glöckchens.

Jetzt stand sie keuchend an der wohlbekannten Stelle, aber – das Seil war nicht zu sehen. Es war abgeschnitten, ganz oben in unerreichbarer Höhe hing der Rest des Stricks; es war also offenbar, daß Jemand von den Hausgenossen selbst um den Raubanfall wußte und deßhalb im Voraus die Möglichkeit beseitigen wollte, fremde Hülfe herbeizurufen.

Rosel hatte sich bis dahin gewaltsam aufrecht erhalten – jetzt drohten ihr die Sinne zu schwinden, es ward ihr dunkel vor den Augen und sie griff krampfig nach dem Geländer, um nicht zusammenzusinken. Es brauste ihr vor den Ohren und wie durch das Geräusch von fallendem Wasser hörte sie das Rufen des Räubers, der sich wieder aufgemacht hatte und nun mit Mehrern an der Thüre zur Gallerie arbeitete und rüttelte. Schon krachten und brachen die Breter … im nächsten Augenblick war sie von den Räubern erreicht …

In den Knieen liegend blickte Rosel mit der sinnlosen ängstlichen Hast der Verzweiflung um sich. Sie erblickte nichts als vor sich das Geländer und seitwärts in der Ecke den Vorsprung des Scheunendachs mit der in ein aufgesperrtes Drachenmaul auslaufenden Dachrinne … „Liebs Mutterl,“ flüsterte sie halb bewußtlos, „hilf Du Deiner Rosel … zeig Du mir einen Ausweg …“

Nochmal blickte sie um sich, nochmal blieb ihr Auge an dem Dachvorsprunge der Scheune haften … „Wenn ich mich an die Rinne anhangen und auf’s Dach hinaufschwingen könnte," dachte sie, aber sie konnte den Gedanken nicht weiter erwägen, denn eben fiel die Thüre zertrümmert auf die Gallerie.

Die Räuber stürzten hinaus, voran ein starker, breitschultriger Mann mit einem gewaltigen rothen Bart, der fast das ganze Gesicht verdeckte und kaum erkennen ließ, daß es mit einer schwarzen Maske bedeckt war. „Hab’ ich Dich, Bestie?“ schrie der Mann und sprang auf Rosel zu.

Diese hatte im Moment, als sie die Thüre fallen hörte, sich halb besinnungslos aus das Geländer geschwungen. Fest hatte sie mit beiden Händen die Dachrinne erfaßt und war eben im Begriff sich auf das Scheunendach zu schwingen, als sie sich von starken Armen gepackt und zurückgerissen fühlte.

Ohne einen Laut von sich zu geben, faßte nun auch Rosel den Räuber und rang mit ihm, auf dem Geländer stehend. Ein Fehltritt hätte sie hinabgestürzt und ihr den Tod gebracht. Keuchend suchte der Angreifer sich von ihr los zu machen, aber umsonst.

„Zum Teufel,“ rief er dem Genossen zu. „was stehst Du da und reißest das Maul auf! Gib der Dirne Eines auf den Kopf, daß ihr das Drosseln vergeht …“

Der Gescholtene hob die Axt zum wuchtigen Streich, aber ehe sie niederfiel, hatte Rosel sich rasch ihren Vortheil ersehen, machte sich die Hände frei, und indem sie mit äußerster Anstrengung wieder die Rinne ergriff, stieß sie den Räuber mit dem Fuße gewaltsam mitten in’s Gesicht.

Schreiend taumelte er einen Augenblick zurück, aber es war genug ihm sein Opfer zu entreißen. Mit der Kraft der Verzweiflung hatte Rosel sich aus das Dach geschwungen, und ohne sie erreichen zu können, mußte er zusehen, wie sie sich vollends auf demselben erhob und dem Glockenthürmchen zukletterte.

„Das ist Dir nicht geschenkt, Bestie,“ rief er ihr nach, „wir treffen schon noch einmal zusammen … Aber jetzt macht, daß wir weiter kommen,“ fuhr er zu den Genossen gewendet fort. „Wenn die droben zu lauten anfängt, könnten sie leicht kommen und uns die gute Beute abjagen!“

Hastig ward der Befehl vollzogen. Nach wenigen Secunden huschten die Räuber aus dem Hause über den Hofraum weg nach dem nahen Walde zu. Im Hause selbst war es todtenstill, vom Dache aber wimmerte und heulte die Glocke, wie eine jammernde und klagende Stimme. Schon begann im Osten der erste graue Streifen zu dämmern; auf den entlegenen Gehöften der Flurnachbarn begann es schon sich hier und da zu regen, und so wurde das Nothzeichen bald gehört. Ehe eine halbe Stunde verging, strömten von allen Seiten die Männer und Bursche mit allerlei Waffen herbei. Sie fanden die Thüren des Hauses und Kisten und Kasten in ihm erbrochen, durchwühlt und ausgeleert. Der Bauer und die Bäuerin lagen gebunden und geknebelt in ihrer Schlafstube am Boden; Rosel mußte mit einer Leiter vom Dache herabgeholt werden.

„Das ist wieder kein Anderer gewesen,“ sagten die Bauern zu einander, als ihnen das Vorgegangene erzählt und die Person des Anführers geschildert wurde. „Das ist niemand gewesen, als der rothe Hannickel mit seiner Bande! Das ist nun der vierte Raub und Einbruch seit einem Vierteljahr, und drinnen auf dem Erdinger Landgericht schreiben sie einen Act um den andern zusammen und bringen doch nicht heraus, wo der rothe Hannickel steckt und wer es ist.“

Kopfschüttelnd, in schwerer Besorgniß um die Sicherheit ihres eigenen Hab’ und Guts gingen sie dann auseinander; Einer ward abgesendet, um beim Landgericht die Anzeige zu machen, und einige blieben als Wache in dem geplünderten Hause. Die Bewohner waren zu angegriffen und erschöpft, um für sich sorgen oder irgend eine Vorkehrung treffen zu können.

Rosel war wieder in ihre Kammer gegangen und kniete in der aufflammenden Morgenröthe am Bette nieder zum Gebete. „Das hab’ ich Dir zu verdanken, mein’ guts Mutterl,“ sagte sie heiß und innig. „Du hast mir den Gedanken eingegeben und die Kraft dazu!“

Als sie ihre Andacht vollendet hatte, legte sie sich noch auf ein paar kurze Morgenstunden zur Ruhe nieder, aber es dauerte lange, bis sie einzuschlafen vermochte. Die so neuen und furchtbaren Erlebnisse hallten noch lang in ihrer Seele nach, noch lang sah sie den Räuberhauptmann mit der schwarzen Larve und dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_002.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)