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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

aus dem Dorfe und aus dem Hause gekommen, und wenn nicht der Pater Theodorus, von dem ich Ihnen nachher erzählen werde, und der ein sehr gelehrter Mann ist, sich seiner angenommen hätte, so wäre er ganz wild und roh aufgewachsen, wie ein Stück Holz im Walde. Und nun frage ich wieder: warum mußte der junge Mensch so tiefsinnig und so menschenscheu werden? Muß nicht auch da etwas Besonderes zu Grunde liegen? – Ah, auch das muß heute Abend heraus. – Und neugierig bin ich auch, was für ein Testament er machen wird. Warum macht er überhaupt ein Testament? Er hat ja nur das einzige Kind, das ohnehin sein gesetzlicher Erbe ist, und der alte Drache ist seine Frau nicht, das steht fest; was sie aber sonst ist, das mag Gott wissen. Seine Frau starb kurz nach seiner Ankunft in Tiefendorf, und erst darauf kam die Alte ihm nach. – Ach, wenn er doch nur lichte Zwischenräume in seiner Verrücktheit haben möchte! Solch' ein Testament gibt tiefe Blicke in die Verhältnisse der Menschen und der Familien. – Ah, ich bin sehr neugierig!“

So plauderte und schwatzte der kleine Mann rastlos und machte sich immer mehr neugierig, aber auch mich mit. Ich leugne es nicht, seine Mittheilungen hatten allerlei Gedanken in mir angeregt und die Begierde in mir geweckt, den Mann, die Familie und das Haus, von denen er sprach, näher kennen zu lernen. Von dem Secretair konnte ich nichts weiter erfahren; er hatte alles, was er wußte, ausgeplaudert. Ich selbst hatte früher den Namen des vormaligen Friedensrichters Lohmann in Tiefendorf niemals, ich hatte kaum den Namen Tiefendorf gehört.

Das Gesuch um Aufnahme des Testamentes war durch einen reitenden Boten, der sofort eilig zurückgekehrt war, an das Gericht gebracht. Es war, was nach dem Gesetze genügte, von dem Sohne des Testators in dessen angeblichem Auftrage geschrieben. Es war nur kurz, aber Handschrift und Styl waren gewandt. Ich mußte, gleich dem Secretair, mit Befriedigung meiner Neugierde auf den Abend warten, der uns nach Tiefendorf und in Haus und Gegenwart des Verrückten bringen sollte.

Wir hatten unsere Fahrt um die Mittagszeit angetreten. Tiefendorf war fünf Meilen entfernt, wie ich schon sagte. Der Weg führte, oft sehr mühsam, durch das Gebirge. Vor sieben Uhr Abends konnten wir nicht eintreffen. Wir hatten Spätherbst, und um sechs Uhr fing es schon an zu dunkeln. Es war gegen halb sechs Uhr des Abends, als wir an einer an der Straße gelegenen Schenke anlangten. Wir hatten von da bis nach Tiefendorf noch eine starke Stunde zu fahren. Der Weg ging jetzt tiefer in das Gebirge; er war nicht mehr die große Landstraße; er wurde beschwerlicher. Die Pferde waren schon ermüdet. Der Kutscher wollte ihnen Brod geben und sie ein halbes Stündchen ausruhen lassen. Wir hielten vor der Schenke an.

Als wir nach Verlauf der halben Stunde im Begriff standen, weiter zu fahren, sollte ein kleines Abenteuer uns Gesellschaft bringen. An der Schenke kreuzten sich mehrere Landstraßen. Auf einer kam der gewöhnliche tägliche Postwagen herangefahren. Er hielt vor der Schenke. Nicht blos, damit der Postillon seinen unvermeidlichen Schnaps erhielt. Die Wagenthür öffnete sich zeitgleich, und ein junges Mädchen stieg aus dem Innern. Es war eine hübsche, beinahe schöne Brünette in voller Jugendfrische und Jugendhaftigkeit. Wie die Farbe, so zeigte auch die Bildung ihres Gesichtes etwas Südliches. Ihr Wesen verrieth zugleich Entschlossenheit und Stolz. Ihre Kleidung war die der mittleren Stände. Man konnte sie für eine Kammerjungfer von einem benachbarten adligen Hofe oder für eine Schneiderin oder Modistin aus einer Stadt der Nachbarschaft halten. Nur wollte doch der Stolz ihrer großen schwarzen Augen dazu nicht recht passen.

Sie sprang leicht aus dem Wagen. Ein Mitreisender reichte ihr ihr Reisegepäck nach. Es bestand aus sehr Wenigem: ein gelbes Taschentuch, in welchem etwas Wäsche und dergleichen eingebunden zu sein schien, das war Alles. Der Conducteur reichte ihr nichts weiter zu. Er bekümmerte sich gar nicht um sie. Sie hatte ihm wohl kein Trinkgeld gegeben. Sie dankte mit einer ernsten und etwas gemessenen Freundlichkeit in den Wagen zurück, dann faßte sie in die Tasche ihres Kleides, trat zu dem Postillon und gab ihm ein Trinkgeld.

„Hier!“

Das mußte damals noch so sein, Es war auch wohl nicht viel, was sie ihm gab. Der Postillon war dennoch dankbar.

„Nach Tiefendorf, Mamsellchen, müssen Sie den Weg hier links nehmen.“

„Ich weiß es.“

„Es ist ein beschwerlicher Weg, Mamsellchen, und es fängt schon an, dunkel zu werden. Aber warten Sie ein Augenblickchen.“

Er hielt nahe bei meinem Wagen, und sah sich meinen Kutscher an.

„Kutscher, komm einmal her.“

Ein Postillon gehört in Preußen zu den Staatsbeamten. Wer ihn in seinem Amte beleidigt, wird wegen Amtsehrenbeleidigung bestraft, eben sowohl, als wenn er einen Minister beleidigt hätte. Auch ein Postillon trägt also obrigkeitliches Element und obrigkeitliches Bewußtsein in sich. Nicht alle Leute wollen das aber zu aller Zeit anerkennen, am wenigsten die Kutscher.

„Herr Postillon,“ rief der Kutscher zurück, „von Dir zu mir ist es just so weit, wie von mir zu Dir.“

„Grober Flegel, wohin fährst Du?“

„Nach Tiefendorf, grober Flegel.“

„Hast Du noch Platz im Wagen?“

„Ich nicht, aber mein Herr vielleicht.“

Aergerte den Postillon zugleich der Mangel an Respect von Seiten eines ordinären Kutschers, oder war es bloße Theilnahme für das hübsche Mädchen, die trotz ihres entschlossenen und stolzen Wesens bei den in ihrem Interesse geführten groben Wechselreden etwas verlegen geworden war – genug, er nahm sich die Mühe, vom Pferde zu steigen und zu mir heranzutreten.

Ich hatte mit dem Secretair gerade in den Wagen steigen wollen, nur jenes Gespräch hatte mich aufgehalten. Ich war dann im Begriff, der Fremden, die unzweifelhaft ebenfalls nach Tiefendorf wollte, einen Platz in meinem Wagen anzubieten.

„Die möchte gerne mit uns fahren,“' flüsterte auch der Secretair Hommel mir zu.

„Sähen Sie es nicht gern?“

„Sehr gern, sehr gern, Herr Assessor. Wir können etwas Neues von ihr hören.“

Ich kam der Bitte, die der Postillon an mich richten wollte, zuvor. „Die Mamsell will nach Tiefendorf, Schwager?“'

„Ja, Herr, und der Weg ist nicht der beste, und man sieht unterwegs keine Menschen und keine Häuser, und finster wird es auch bald.“

„Ihr habt in Allem Recht, braver Schwager.“ Ich ging zu dem Mädchen. „Mamsell, wir fahren nach Tiefendorf; es wird mir ein Vergnügen machen, wenn Sie mit uns fahren wollen.“

„Sie sind sehr gütig, mein Herr. Ich würde Sie doch nicht belästigen?“

„Nicht im Geringsten.“

„So nehme ich mit Dank an.“

Sie hatte auch die wenigen Worte mit dem entschlossenen Wesen gesprochen, das ihre Erscheinung zeigte. Sie warf dem Postillon einen dankenden Blick zu, dann stieg sie mit dem Secretair und mir in unsern Wagen. Der Postwagen fuhr auf der Landstraße weiter; wir fuhren in das tiefere Gebirge hinein.

Der Weg war in der That schlecht, uneben, holperig, einsam und langweilig genug; aber der Secretair Hommel gab sich alle Mühe, ihm mindestens die Langeweile zu nehmen, wenigstens für sich und mich. Schon in der ersten Minute begann er mit unserer neuen Reisegefährtin zu plaudern und sie auszufragen. Sie setzte ihm Geduld, aber auch Gemessenheit entgegen.

„Sie wollen nach Tiefendorf, Mamsell?““

„Ja, mein Herr.“

„Ein schlechter Weg dahin.“

„Ja.“

„Sie kennen ihn also?““

„Ich kenne ihn.“

„Sie haben ihn also schon öfters gemacht?“

„Schon mehrere Male.“

„Ah, Sie sind wohl aus Tiefendorf?“

„Ja.“

„Gebürtig?“

Sie antwortete erst nach kurzem Nachsinnen. „Ja.“

„Und wohnen Sie auch dort?“

„Jetzt nicht mehr.“

„Sind Sie schon lange von da fort?“

„Seit ungefähr einem Jahre.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_195.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)