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welcher mit nichts begonnen hat, als seiner Hände und seines Kopfes Kraft, gegenwärtig 700,000, sage siebenmalhunderttausend Merinos besitzt! Im großen Durchschnitt nur 5 Pfund Wolle – ungewaschen wegen Wassermangel! – auf das Haupt gerechnet, während man sonst stets 7–9 Pfd. annimmt, und das Pud zu 6 Rubel, dem jetzigen Preis, so hat der Mann ein jährliches Einkommen von 525,000 Rubel Silber blos von seinen Schafen, Verkauf von Zucht- und Schlachtvieh gar nicht gerechnet. Da darf es auch nicht wundern, daß er vor einigen Jahren dem Herzog von Anhalt seine großen Besitzungen in Neurußland abgekauft und den Betrag dafür baar auf den Tisch gelegt hat. Seine einzige Tochter hat er an seinen Schafmeister verheirathet.

Das eingeborne Schaf der Steppe ist das mit dem Fettschwanz, ein Abkömmling der syrischen Race, von welcher man fabelt, daß sie die schweren Fettschwänze auf kleinen Rollwagen hinter sich her schleppen müsse. Leider hat die Schafzucht hier mit mancherlei Gefahren zu kämpfen, von welchen man im übrigen Europa wenig weiß. Die furchtbarste darunter sind die Schneestürme im Winter. Ohne daß der erfahrene Schafmeister – beiläufig gesagt, fast immer ein Deutscher und gewöhnlich ein Sachse – aus seiner praktischen Meteorologie im Voraus davon Kunde hat, bricht plötzlich ein furchtbarer Sturm daher aus Norden oder Nordosten. In einem Augenblick ist die ganze Luft erfüllt von zusammengefrorenen, halb consistenten Schneekörpern, oft von bedeutender Größe, welche mit betäubendem Geprassel herniederschlagen und selbst dem Muthigsten alle Besinnung zu benehmen vermögen. Wer von einem solchen Sturm inmitten der Steppe überrascht wird, dem bleibt nichts übrig, als sich niederzusetzen, den Mantel über den Kopf zu ziehen und zu warten, während ihn der Himmel unbarmherzig bis auf’s Blut peitscht. Die armen Schafe besitzen nicht die Geduld, deren Sinnbild sie sind; das schmerzhafte Auftreffen des Hagels, der pfeifende Wind, die schneidende Kälte, die er mit sich bringt, regen sie nach und nach auf bis zur Raserei; dazu kommt noch, daß die fallenden, breiigen Flocken auf ihrem Körper haften bleiben und fest frieren, wobei namentlich die Augen dermaßen incrustirt werden, daß sie völlig blind sind. Dann ist aber auch kein Halt mehr – Schäfer und Hunde, selbst wenn sie im Stande wären, sich frei zu bewegen, verlieren die alte Gewalt – unaufhaltsam stürzt die ganze Heerde davon in dichtgedrängter Schaar, immer gerade aus, über Hügel und Thal, durch Sumpf und Liman – oft ist es geschehen, daß auf diese Weise Tausende von Schafe auf einmal in den Gewässern umgekommen, und gar häufig ist der Ingul von den Dämmen ihrer Leiber bis zur Gefahr geschwellt worden. Auch wenn ein besserer Stern die rasenden Thiere an die Wand eines jähen Absturzes oder an eine Mauer führt, wo die ersten erschöpft zusammenbrechen und alle andern dann, wie gebannt, laut keuchend und die Köpfe unter die Leiber drängend, unbeweglich stehen bleiben, sind sie noch nicht gerettet, wenn der Schneesturm anhält, und oft dauert er mehrere Tage lang. Denn gelingt es dem pflichtgetreuen Schäfer auch, der Heerde nachzufolgen und sie endlich zu entdecken, so gibt es gar kein Mittel, die Thiere wegzubringen, als sie einzeln fortzutragen. Vielleicht ist aber das nächste Gehöft meilenweit, und es sind mehrere Tausend Schafe! Auch der Wolf holt manches schöne Stück, trotz aller Aufmerksamkeit der Hirten und Hunde. Die letzteren begnügen sich gewöhnlich damit, den wilden Feind durch Bellen abzuwehren; daß sie ihn angreifen, kommt sehr selten vor.

Noch eines wunderbaren Schauspiels will ich gedenken. Wer hat nicht gelesen oder gehört von den Steppenbränden in Amerika? Auch die europäische Steppe brennt häufig, ja alljährlich, denn nicht anders weiß der Bauer den überhand genommenen Burian zu bewältigen und Raum zu schaffen für süßes Gras, als durch des Feuers Macht. Ohne große Vorsicht geht er dabei zu Werke, höchstens daß er die Windrichtung so wählt, um seine Wohnung und seine Schober nicht in Gefahr zu bringen. Das Abbrennen der Steppen geschieht im Herbst, öfter noch im zeitigen Frühjahr. Aus Erfahrung kennt der Landmann im Voraus ziemlich genau die Grenzen, welche der Brand innehalten, die Hemmnisse, vor welchen er erlöschen wird; darnach richtet er sich, und hat dann weiter nichts zu thun, als an gelegener Stelle anzuzünden. Mit leisem Zischen schießt nun plötzlich die Feuerschlange durch das dürre Gras, aber man erblickt nicht sie selbst, nur ihre Wirkung, die schwarzverbrannten oder aschweißen Reste auf dem Boden; eine Zeit lang gewahrt man darauf fast gar nichts mehr und glaubt den Brand erloschen; plötzlich flammt prasselnd mit heller Lohe ein gewaltiger Burianbusch empor, im Nu erfaßt die Gluth seine Nachbarn, die hohen, ästigen Stengel drehen und winden sich wie in Schmerzen, laut knistert und knallt es, eine gewaltige Feuersäule steigt himmelan, nur einen Augenblick sichtbar, dann sinkt nach der erbarmungslosen Vernichtuug der höherstehenden Gewächse das Element wiederum wie beruhigt herab in das niedere Gras und frißt darin weiter. Es gebehrdet sich dabei fast wie ein lebendes, höchst capriciöses Wesen, einige Zeit lang scheint es unbeweglich zu stehen, auf einmal aber läuft es mit Pfeilesschnelle, gleichsam dem Winde voraus, eine lange Zeile vorwärts und läßt einen ganzen Streifen völlig unberührt, welchen man nunmehr für verschont hält; plötzlich aber steht auch dieser in Brand, man weiß nicht wie; der Luftzug scheint fast keinen Einfluß auf die Flamme zu haben, so zickzackartig, schlangengleich fährt sie einher. Nach und nach beginnt eine immer dichter werdende rothe Rauchwolke sich über den Boden zu lagern, seltsam wogt und wälzt sie hin und her, vorwärts und rückwärts; bald hebt sie sich empor und verstattet völlig freien Durchblick, bald rollt sie sich in dichte Ballen zusammen und streicht vor den züngelnden Flammen dahin, ähnlich den langen Wogenkämmen des unruhigen Meeres.

Jeder heftigere Windstoß schleudert den Brand weit hinaus in die Steppe, so daß er einem entfesselten Strom ähnlich dahin und dorthin sich ergießt, bisweilen Inseln bildend, die er aber später gleichfalls überfluthet, und der unheimliche Anblick wird erhöht durch die Unsichtbarkeit der Flammen im hellen Tageslicht, die sich nur zeigen, wenn besonders dichte Massen auflodern. Ein brenzlicher Geruch, dem des erstickenden Torffeuers ähnlich, erfüllt weit und breit die Luft, in welcher Milliarden von schwarzen Stäubchen und Fäserchen umhertanzen und in einem Augenblick den Zuschauer überpudern; die Wärme des Bodens, welchen die Flamme verlassen hat, ist sehr fühlbar. Das großartige Schauspiel fliehender Heerden von Büffeln oder Antilopen, dazwischen Puma’s oder Leoparden, wie in den Prairien und Pampas der neuen Welt und in den Savannen des Caplandes, fehlt hier gänzlich und ich bedaure sehr, einem solchen drastischen, obgleich etwas abgenutzten Motiv der Schilderung entsagen zu müssen; hier wird es höchst kärglich repräsentirt durch arme Nager und Haidevögel, die aus ihren Schlupfwinkeln vertrieben werden, durch einige flüchtige Hasen und durch Raubvögelschwärme, welche dem Qualm von ferne folgen, um nach gerösteten Leckerbissen zu spähen. Nur sehr selten mag es stattfinden, daß Heerden oder einzelne Weidethiere von einem Steppenbrand überrascht werden; von dabei vorkommenden Unglücksfällen hört man niemals erzählen.

Eigenthümlich erscheint das Aussehen der abgebrannten Steppe mit ihrer leichten, dünnen Aschendecke und den schwarzen Pflanzenresten, welche bald ihre Form verlieren, denn der Regen wäscht Alles durcheinander und hinab in den von tausend feinen Rissen klaffenden gleich einem Schwamm porösen Boden. Kaum sendet aber die Frühlingssonne die ersten intensiv warmen Strahlen, so verwandelt sich auf einmal, wie durch einen Zauber, daß schmutzige Grau der Fläche in ein hellgoldiges Grün; Millionen feiner Blattspitzen keimen[WS 1] daraus empor und bilden in wenigen Tagen einen dichten Teppich, welcher ebenso sehr das Auge erfreut, wie Gaumen und Magen der in der langen Winterhaft elend heruntergekommenen Nutzthiere. Das Behagen muß man sehen, mit welchem sie der langentbehrten Weide zueilen, und die Schnelligkeit, mit der sie im Ueberflusse die verlorenen Kräfte und die Körperfülle wiedergewinnen, um den fabelhaften Reichthum dieses jungfräulichen Bodens kennen und würdigen zu lernen.

Noch Vieles könnte ich erzählen aus den russischen Steppen: von dem Nomadenleben der Hirten, von den sonderbaren Völkerstämmen, die sie bewohnen, von den Wagenkarawanen, deren endlose Reihen dem Markte von Odessa oft weit, weit her die goldenen Körner der Ceres zuführen, von den Lagern ihrer Führer und der Jagd nach den während der Nacht entlaufenen Zugthieren, von den Schenken und Ansiedelungen, von den Brunnen mit Wasserhandel und den Arbusenverkäufern an den breiten Wegen, wo jeder Wagen eine neue Spur nimmt, wie es ihm beliebt, und gar Manches über die großen und kleinen Leiden, welchen der Wanderer in jenen Regionen nicht entgeht. Aber ich fürchte, die Geduld des Lesers schon zu lange in Anspruch genommen zu haben, und darf ihn kaum mehr ersuchen, mich zu begleiten auf einer abenteuerlichen Steppenfahrt in der Richtung von Balta nach Odessa, auf deren letzter Station, von Kasapontska ab, etwa 48 Werst weit, mich ein deutscher Stellmacher, Bischofberger heißt der Gute, fuhr oder vielmehr nicht fuhr; denn zwei Stunden nach der Abfahrt war er dermaßen in Schnaps betrunken, daß er sich zurückwarf auf meinen schmalen Strohsitz und mir die Lenkung des armseligen Einspänners überließ. Da hatte ich denn Gelegenheit, die Steppe in allen möglichen Hinsichten und Beleuchtungen kennen zu lernen, denn statt um 8 Uhr Abends anzulangen, fuhr ich bis 3 Uhr Morgens meinen branntweintodten Kutscher in der Irre herum spazieren. An diesen Abschied von der Steppe will ich gedenken mein Leben lang!

Sonderbar, daß gerade den Bewohnern der dürftigsten Regionen der Erde die Liebe zu ihrer kargen Heimath so tief in das Herz gewachsen ist! Auch der Sohn der Steppe fühlt sich nirgends wohl, als in ihrer Mitte, und daraus versetzt, erfaßt ihn unbezähmbares Heimweh, Ueberschleicht doch auch mich, der ich im Ganzen nur kurze Zeit mich ihrem Reize hingegeben, trotz aller reichlich genossenen Entbehrungen und kleinen Miseren, zeitweise eine Sehnsucht nach dem weiten, unbeschränkten, freien Gebiete der Steppe.

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