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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Literarische Aquarellen.
II.

Varnhagen von Ense.

Nur zu gern pflegen wir in der Nähe berühmter Männer, zu verweilen und unwillkürlich prüfen wir sie in der Nähe, um möglichst außerordentliche Umstände bei ihnen zu entdecken. Je keuscher und edler der Ruhm eines Sterblichen ist, desto übernatürlicher malen wir gern uns seine Menschlichkeit aus und sehr oft locken wir damit die Enttäuschungen hervor. Die Liebenswürdigkeit ist eine so edle und seltene Tugend, daß wir meist jede Berühmtheit damit umkleiden, ohne sie jedoch immer bei ihnen in Wirklichkeit anzutreffen. Und kann etwas mächtiger einwirken, als einen großen Mann stets wohlwollend, liebenswürdig und edelsinnig anzutreffen?“

Varnhagen von Ense ist unstreitig einer der liebenswürdigsten Greise, der mit der Reinheit seines literarischen Ruhmes sich auch im Sturm der Zeiten jene freundliche Eleganz bewahrt hat, die immer mehr und mehr unserer Generation entschwindet und mir immer den Ausspruch eines anderen Nestors der Wissenschaft zurückruft, wonach die Feinheit und Grazie des Benehmens mit der allgemein werdenden Sitte des Cigarrenrauchens untergegangen ist. Die gewinnende Liebenswürdigkeit bleibt ein Verdienst der Erziehung des ancien régime und findet sich heute nur noch in wenig auserlesenen Cirkeln und Personen, gegen deren Weltton der unsrige wie ein unechter Goldflitterstaat erscheint. Aus dem Witz der Calembours ist der Kladderadatschton erstanden, aus der Geistreichigkeit der alten Zeit, welche noch die talons rouges abtreten sah, ist die haschende Pointenmanier geworden, wie denn überhaupt mit dem Umgestalten des socialen Lebens und dem Hinsterben der Salons der moderne gesellschaftliche Ton aller Reize verlustig gegangen ist und nur in den berüchtigten commerzienräthlichen Theesalons sein erkünsteltes Leben oft durch Trivialitäten erhält.

Ist es uns vergönnt, einer Celebrität der alten Salons zu begegnen und, wie bei Varnhagen, unmerklich in eins jener interessanten Geplauder zu gerathen, welches ein geistreicher Witz ohne Malice schärft und das wie ein klarer Bach über mancherlei Felder hinrollt, so denken wir ganz unwillkürlich daran, ob auch wir wohl dereinst so angenehme Greise werden könnten, abgesehen davon, ob der Himmel uns überhaupt mit einem so langen Leben und mit dem schönen Unglück des Ruhmes beschenken wird. Niemand mehr, als der greise, stets freundliche, elegante und fein diplomatische Varnhagen, ruft uns heute jene Zeit der Salonblüthe zurück und speciell die Epoche, in welcher Berlin sich zur nordischen Metropole der Intelligenz machte, die es in etwas anmaßlicher Einbildung noch heutigen Tages zu sein glaubt.

Karl August Varnhagen von Ense, geboren 1785, gehörte schon früh dem eigenthümlichen Kreise von Anschauungen und Bezügen, welche die gewaltige Uebergangsepoche der deutschen Nationalbildung machten, in unmittelbarem Zusammenwirken und als eins der wesentlichsten Glieder desselben an. Diese Uebergangsepoche im Anfange dieses Jahrhunderts bezeichnet sich mit den Ideen, welche einen Neubau der socialen Verhältnisse, eine Fortentwickelung der Religion und die Herstellung und Begründung einer befriedigendsten Periode des Völkerlebens im Auge haben: ein Echo der französischen Revolution und bedeutungsschwangerer Messianismus der Zukunft, der sich mit hochrothen Feuerzeichen an den Horizont der Zeit gemalt hat. Jenes Ziehen, Zucken und Wetterändern in Reflexion, Gesinnung und Gestaltung einer ganzen Menschheitsepoche,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 573. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_573.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2022)