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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Als die zweite Abtheilung mit ähnlichen Dummheiten begann, und bei den jungen Herrn das Organ des Diebstahls von der Dame geweckt wurde, und nun einigen Personen der leichtsinniger Weise auf den ersten Bänken sitzenden Haute volée Sachen mit bewundernswürdiger, fast an das Mögliche grenzenden Geschicklichkeit zu verschwinden anfingen, da dachten wir an das eigene Verschwinden. Wir hatten genug! Wir waren hinlänglich, bis zum Ekel gesättigt und mit dem Ausruf: „Herr Gott, ist es denn möglich?“ verließen wir den furchtbarsten aller Schwindel, der in der Verdummung des menschlichen Verstandes sein Leben findet.

L. Lffl.




Bilder aus dem Gefängnißleben.
Von Max Ring.
Nr. 2.[1]

Daß alle Karten- und andere Spiele im Gefängnisse streng verboten sind, versteht sich ganz von selbst; nichtsdestoweniger wird kein Verbot öfter übertreten. Zu Würfeln werden die übrig gebliebenen Brodkrumen benutzt und die Augen darauf mit einem Besenreis gezeichnet. Schwieriger ist die Herstellung der Karten, aber auch dafür sorgt der Scharfsinn. Der gefangene Mann reißt von den Hemden ein Stück Leinwand ab, das zuerst in Salzwasser steif gemacht und dann in kleinere Theile zerstückelt wird. Mit Hülfe von Ruß, Ziegelmehl und im Nothfalle selbst von Blut, werden die nöthigen Zeichen und Figuren in rohen Umrissen gemalt. Während des Spieles muß einer stets aufpassen und, sobald der Gefängnißwärter oder ein Beamter sich nähert, verschwinden die Karten mit Blitzesschnelligkeit, und die Gefangenen sitzen mit den unschuldigsten Mienen von der Welt wieder da.

Im Krankensaale selbst fand ich gerade heute mehr Patienten als sonst, da trotz aller Sorgfalt der Skorbut, eine leider häufig vorkommende Geißel der Gefangenen, mit ungewohnter Stärke wieder einmal ausgebrochen war. Die Krankheit entsteht in Folge der Einschließung, aus Mangel an frischer Luft und durch den Genuß einer mehr einförmigen und nicht allzu nahrhaften Kost. Sie äußert sich in Gestalt einer allgemeinen Säfteentmischung und Blutverderbniß durch zahllose blaue Flecke und bald größere, bald kleinere Blutaustretungen, besonders des Zahnfleisches und der weicheren Körperstellen. Wenn auch in der Mehrzahl der Fälle heilbar, so fehlt es doch öfters nicht an tödtlichem Ausgange durch vollständige Erschöpfung der Lebenskraft. Unter diesen Patienten dauerten mich am meisten einige politische Gefangene, welche sich noch dazu nur in Untersuchungshaft befanden und, vom Skorbut ergriffen, jetzt mitten unter den verworfensten Verbrechern lagen, in einer Gesellschaft von Leuten, welche meist zu dem Auswurf der Menschheit gehörten. Ich suchte, so viel es in meinen Kräften stand, ihre wahrhaft bemitleidenswerthe Lage zu verbessern und trug wenigstens Sorge, daß diese höchst gebildeten und ehrenwerthen Männer, welche schwer für ihre Ueberzeugung litten, abgesondert von den Uebrigen zusammengelegt wurden. Mehr vermochte ich nicht zu thun, da in dem Gefängnisse eine zwar gerechtfertigte, aber oft entsetzliche Gleichheit herrscht und ohne Ansehen der Person, des Bildungsgrades und selbst des Verbrechens verfahren wird. Dies ist ein Uebelstand, der besonders schwer solche Personen trifft, welche sich vorläufig nur in Untersuchungshaft befinden und häufig als vollkommen unschuldig später entlassen werden müssen. Sie leiden trotz aller Humanität, die man ihnen angedeihen läßt, unter solchen Verhältnissen nun doppelt. Wer entschädigt sie aber für all’ die überstandenen Qualen, wenn sie oft erst nach Monaten, selbst nach Jahren von aller Anschuldigung freigesprochen werden? Wer ersetzt ihnen ihre verloren gegangene Gesundheit, die täglichen Demüthigungen, die schlaflosen Nächte und all’ die Verluste an Geist, Körper und Vermögen? – Hier sollte das Gesetz und die Richter, als Ausleger desselben, mit besonderer Vorsicht verfahren und nur unter den gravirendsten Umständen die oft leicht ausgesprochene und schwer wieder gut zu machende Verhaftung beschließen. – Während ich noch im Krankensaale mit den Patienten beschäftigt war, ersuchte mich ein Wärter, den ebenfalls aus politischen Gründen verhafteten Grafen R…lach auf seiner Zelle zu besuchen, indem dieser sich krank melden ließ. Derselbe hatte, in’s deutsche Parlament nach Frankfurt gewählt, nach der Auflösung desselben an den Sitzungen und Beschlüssen des sogenannten Rumpfes Theil genommen, weshalb er gegenwärtig unter der schweren Anklage des Hochverrathes stand, worauf bekanntlich nach dem Gesetze die Todesstrafe erfolgen soll. Bis jetzt war ich dem Grafen nie näher getreten und war daher auf seine Bekanntschaft gespannt, da ich bereits so viele und so verschiedene Urtheile über ihn gehört hatte. Während die Einen ihn für einen hirnverbrannten Schwärmer oder ehrgeizigen Demagogen verschrieen, sahen Andere in ihm einen der edelsten Männer des deutschen Vaterlandes, einen politischen Märtyrer voll der seltensten und vorzüglichsten Eigenschaften. Ich fand einen hohen, schlanken Mann von höchstens dreißig Jahren, mit echt aristokratischen Zügen, welche um so mehr bei der mir bekannten Gesinnung auffallen mußten. Sein ganzes Wesen drückte einen hohen Grad von Biederkeit und wohlthuendem Idealismus aus, welcher allerdings mir an Schwärmerei zu grenzen schien.

Er saß auf seinem einfachen Bette, das in einer Matratze, einem Keilkissen und einer wollenen Decke bestand; neben ihm eine jüngere Dame nicht auffallend schön, aber desto geistreicher aussehend. Die zärtlichste Liebe, welche fast an Anbetung für ihn grenzte, strahlte aus ihren tiefen, blauen Augen. Er stellte mir dieselbe als seine Gemahlin vor und sie richtete mit der Angst eines liebenden Herzens die Bitte an mich, den Gesundheitszustand des Gefangenen zu untersuchen und die nöthigen Anordnungen zu treffen. Einige Fragen reichten hin, um mir die Ueberzeugung zu verschaffen, daß ich es mit einem unbedeutenden Leiden zu thun hatte, und ich freute mich, die etwas übertriebenen Besorgnisse der Gräfin durch meine beruhigenden Worte zu verscheuchen. Ihre vorher bleichen Wangen belebten und färbten sich mit einem feinen, rosigen Hauch, wodurch ihr Gesicht einen lieblichen Reiz erhielt. Voll Dankbarkeit ergriff sie meine Hand, und als ich diese zurückzog, fühlte ich eine heiße Thräne darauf. Bald war ich mit dem Grafen in ein interessantes Gespräch verwickelt, das mich meine beschränkte Zeit vergessen ließ. Er gab mir ein lebendiges Bild von den politischen Vorgängen, den Parteien und Führern in der Paulskirche, er schilderte mit großer Frische die Ereignisse, die verschiedenen Intriguen, Scenen und zuletzt den blutigen Straßenkampf, welchem die Ermordung des Fürsten Lichnowski und Auerswald’s vorangegangen war. Mit größter Unparteilichkeit beurtheilte er die hervorragendsten Persönlichkeiten und Charaktere auf beiden Seiten; eben so wenig war er blind gegen die begangenen Fehler seiner Partei, die er einer eben so scharfen als wahren Kritik unterwarf. Je länger ich ihn reden hörte, desto mehr lernte ich sein gesundes Urtheil, sein gediegenes Wissen und vor Allem die Ehrenhaftigkeit seiner Gesinnungen und Festigkeit seines Charakters schätzen. Zuweilen mischte sich auch die Gräfin in unser Gespräch und sie zeigte sich in jeder Beziehung ebenbürtig eines solchen Gatten.

Von den allgemeinen Verhältnissen kamen wir auch bald auf die besonderen Schicksale des Grafen, welche in mehr als einer Beziehung mir interessant erschienen. Er war schon einmal von den Geschworenen seines Kreises von dem ihm zur Last gelegten Verbrechen freigesprochen worden, wogegen die Staatsanwaltschaft die Nichtigkeitsbeschwerde erhob. Von Neuem vor andere Geschworene gestellt, erklärte sich die Mehrzahl der zuständigen Richter für incompetent und verfügte die Freilassung des Grafen. Das Obergericht zu R…n leitete hierauf gegen die Richter, welche nur ihrer Ueberzeugung gefolgt waren, eine Untersuchung im Disciplinarwege ein und bestrafte einige durch Versetzung, andere derselben durch Entlassung aus dem Staatsdienste. Der Graf selbst wurde von Neuem verhaftet, da er trotz des dringenden Rathes seiner Freunde sich im Gefühle seiner Unschuld nicht zur Flucht entschließen wollte. Seine Angelegenheit wurde so zum dritten Male einem ganz fremden Schwurgerichtshofe überwiesen, ungeachtet die bedeutendsten Rechtsgelehrten diese Maßregel als eine ungesetzmäßige betrachteten.


  1. Erster Artikel siehe Nr. 26.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_414.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)