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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Ein Matrosenkeller in Amsterdam.

Der 6. December, der Sanct-Nikolaustag, ist für die Holländer ein hoher Festtag, er ist ihnen das eigentliche Weihnachtsfest, das wir am 25. December begehen. Ein mir befreundeter Arzt, Dr. van Emden, hatte mich zu einer Wanderung durch Amsterdam aufgefordert. Der Doctor hatte gerade diesen Abend gewählt, wo Amsterdam eine ganz andere Physiognomie annimmt, als die ist, die es gewöhnlich zu zeigen pflegt: der geschäftliche düstere Ernst verschwindet, Handel und Schifffahrt ruhen, und Arbeiter und Matrosen durchziehen fröhlich die Straßen, um die Orte aufzusuchen, von denen sie sich das meiste Vergnügen versprechen. Der Abend des Nikolaustags ist nur der Freude gewidmet, und der Matrose vorzüglich giebt sich ihr auf seine Weise rückhaltlos hin.

Matrosenschlafstelle in Amsterdam.

Der Doctor führte mich in den Stadttheil, den sich das lustige Seevolk zum Tummelplatze für diese Nacht ersehen hat. In den Straßen wogt, drängt, schreit und singt die Menge, daß man kaum die Worte seines Begleiters verstehen kann. Die sonst strenger Disciplin unterworfenen Seeleute haben heute das Privilegium, ihrer Laune den Zügel schießen zu lassen, und sie machen dergestalt davon Gebrauch, daß es für einen Fremden gerathen erscheint, nur in Begleitung eines Seemanns sich in den ausgelassenen Tumult zu wagen, der den heiligen Nikolaus feiern soll. Der Doctor war ganz der Mann, einen Fremden zu führen, denn er kannte das Terrain, und unter den lustigen Matrosen waren viele, die ihn kannten. Unter seinem Schutze durfte ich es wagen, die Orte zu betreten, wo sich das Matrosenleben in seinem wahren Glanze und mit allen seinen Eigenthümlichkeiten entfaltet.

Durch die Fenster fast aller Häuser sahen wir den Lichterglanz kleiner Christbäume, und in den Conditoreien und Restaurationen hatte man, um die Gäste anzulocken, sehr große angezündet. Gewöhnlich sind die Häuser der Holländer still und düster, so daß man glauben möchte, sie seien nicht bewohnt – heute erglänzten die Fenster wie feurig blinkende Augen und warfen einen hellen Schimmer in die belebten Straßen. Die kleinen, mit schweren Giebeln versehenen und dunkel gefärbten Häuser gewährten heute einen frohen, festlichen Anblick, und auch die sonst so ernsten Bewohner zeigten sich, um das Gewühl in den Straßen zu betrachten.

Kaum hatten wir die glänzend beleuchtete Straße betreten, als sich mir ein neues Schauspiel bot. Es kam uns ein Mann entgegen, der mit der linken Hand ein großes Packet Papiere hoch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_675.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2023)