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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 52. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Die Blinde.

Weihnachtserzählung von August Schrader
(Schluß)

Es war im Anfange des December, als der bisher so rüstige Pastor Braun zu kränkeln begann. Er besuchte das Schloß nicht mehr und der Küster mußte statt seiner den Gottesdienst abhalten. Obgleich der Arzt die Krankheit für nicht bedeutend erklärte und eine baldige Genesung in Aussicht stellte, so schrieb Concordia dennoch folgenden Brief an Vetter Arnold:

„Sie haben in Ihrem Briefe aus tausend Gründen die Bitte abgelehnt, in der Christmesse eine Gastpredigt abzuhalten – mein guter Vater ist plötzlich so krank geworden, daß er in diesem Jahre sein Amt nicht mehr versehen kann. Die benachbarten Pfarrer sind an dem hohen Festtage in ihrer eigenen Gemeinde beschäftigt, und den armen Vater betrübt es tief, daß er seinen Pfarrkindern gerade an dem heiligen Abende die Predigt vorenthalten muß. Im Angesichte solcher Dinge werden alle Gründe nichtig, und wenn Sie noch einige Liebe zu Ihrem Onkel empfinden, so machen Sie ihm die Freude, statt seiner die Christmesse abzuhalten. Uebrigens mache ich Ihnen die vertrauliche Mittheilung, daß der Vater für Sie ein reizendes Weihnachtsgeschenk bereit hält. Antworten Sie umgehend, um uns zu beruhigen.“

„Ich denke, das wird ihn bestimmen!“ sagte sie lächelnd, als sie den Brief siegelte. „Finde ich auch seine Weigerung erklärlich, so muß er dennoch kommen. Ich möchte gar zu gern, daß der gute Bursch gerade am Christfeste die Nachricht von der Pfarre erhält. Es thut mir leid, daß ich ihn nicht heirathen kann, denn sonst hätte ich ihm auch diese Weihnachtsfreude noch bereitet – aber kommen muß er, denn er darf nicht leer ausgehen. Wie anders soll ihn denn die Gemeinde kennen lernen? Und die Frau Hofräthin, die jetzt als Besitzerin des Schlosses das Patronat über die Stelle hat, muß doch auch wissen, wem sie die Pfarre giebt.“

Der Brief ging ab, und schon am fünften Tage traf die Antwort Arnold’s ein. Er schrieb, daß ihm die Pflicht der Dankbarkeit über alle Rücksichten ginge, und daß er zwei Tage vor Weihnachten eintreffen würde, um dem Onkel nach Kräften nützlich zu sein. Jubelnd theilte Concordia dem Vater diese Nachricht mit. Der gute Pastor, der die Alliance der Frauen nicht kannte, deutete diese Freude in seinem Sinne.

„Ich bereite Euch Allen eine Ueberraschung,“ flüsterte Concordia der Mutter zu; „wer wird mir eine bereiten?“

„Vielleicht scheitert einer Deiner Pläne –“

„Das wäre freilich eine unangenehme Ueberraschung, aber ich werde sie schon zu verhindern wissen.“

Pastor Braun bedauerte nichts mehr, als daß er verhindert war, die Hofräthin zu besuchen und den Fortschritt der Genesung Cäcilien’s zu beobachten. Eifrig befragte er nun Concordia, die fast täglich einige Stunden bei der Blinden zubrachte. Es war in der Mitte des December, als sie auf Befragen berichtete:

„Das junge Fräulein ist mir eine merkwürdige Erscheinung, ich weiß nicht recht klug aus ihr zu werden. Es gelingt mir stets, sie in eine heitere Stimmung zu versetzen, aber plötzlich wird sie wieder trüb und einsilbig, und dann bittet sie mich jedesmal, sie zu der kleinen Orgel in der Kapelle zu führen. Mir bleibt dann nichts weiter, als die Balgentreterin zu machen. Aber das muß ich bekennen, das blinde Fräulein spielt meisterhaft, viel besser als unser Schulmeister. Wenn sie eine Viertelstunde gespielt hat, so hört sie plötzlich auf, und komme ich zu ihr, so sitzt sie starr wie eine Bildsäule vor der Claviatur, und die hellen Thränen rollen ihr über die Wangen. Nun führe ich sie in das Zimmer zurück, wo sie so lange sich dem Eindrucke der Musik überläßt, bis die Frau Hofräthin kommt, vor der sie ihre seltsame Gemüthsstimmung zu verbergen sucht. Es ist doch ein großes Elend, zeitlebens in Finsterniß wandeln zu müssen.“

„Es ist bereits Alles versucht, mein Kind,“ antwortete der Pfarrer. „Hier scheitert die Kunst der Aerzte.“

„Das ist auch wahrscheinlich der Kummer des guten Mädchens,“ meinte Concordia.

Der Pastor kannte zwar den Grund besser, aber er verschwieg ihn. Denselben Nachmittag fuhr ein Wagen vor die Thür der Pfarre – die Hofräthin und Cäcilie kamen, um dem Greise, der das Zimmer nicht verlassen durfte, einen Besuch abzustatten. Jubelnd führte Concordia die Gäste in das Haus. Das blinde Fräulein hatte zum ersten Male nach der Krankheit das Schloß verlassen, und ihr erster Besuch sollte der Freundin gelten.


V.

Acht Tage vor dem Christfeste befanden sich die beiden jungen Mädchen allein in einem Zimmer des Schlosses. Ein heftiger Nordost hatte sich aufgemacht, und peitschte den Schnee prasselnd an die Fenster.

„Was ist das?“ fragte Cäcilie, die ihre Harfe vor sich hatte und im Begriffe war, der Freundin ein neu erfundenes Musikstück vorzutragen.

„Das ist der Boreas, der die Falten des Wintermantels ausbreitet, wie Vater zu sagen pflegt,“ antwortete Concordia. „Wenn der rauhe Mann so fort arbeitet, hat er morgen sein Werk

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 629. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_629.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)