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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

der Verwüstung, die wir früher noch nicht gesehen, die dunkeln, blitzenden Colonnen der Franzosen vor uns, die sich bildenden Reihen unserer eigenen Regimenter, unter denen so viele jetzt erst ihre Nachbarn vermißten, und in weiterer Ferne unsere Flotte mit ihren geschwollenen Segeln und unendlich langen Dampfwolken. Aber was ist das für eine schwarz gefleckte Stelle in der Ebene vor uns? Eine todte Masse, aus der sich zuweilen Arme und jammernde Rufe erheben, aber immer wieder ohnmächtig versinken und erlöschen. Das ist die Ebene, wo die Russen am Längsten standen und sie am Dichtesten fielen. Mein Gott, sechszig qualvolle Stunden hatten sie gelegen und waren noch zu Hunderten am Leben, ohne daß wir etwas thun konnten, ihnen endlich die Qualen oder wenigstens den Tod zu erleichtern. Siebenhundertundfunfzig Mann blieben hier hilflos auf der Ebene liegen. Zwar hatten die Unsrigen ihre Wunden möglichst verbunden, aber was konnten wir weiter thun, da unsere eigenen Brüder in Massen aus Mangel an Pflege und Unterkommen elendiglich hinstarben? Doch ich darf hier Dr. Thomson vom 44sten Regiment nicht vergessen. Er blieb allein für die 750 verwundeten Feinde unter vielen Todten, die seit der großen Beerdigung von gestern gestorben waren, zurück. General Estcourt sandte außerdem auf Befehl Lord Raglan’s in ein benachbartes Tartarendorf, wo die Einwohner eben zurückgekehrt waren, und ließ ihnen die Aufgabe des Dr. Thomson und ihre Pflicht gegen die Verwundeten erklären und zugleich bitten, daß sie bei etwaigen Ueberfällen von Kosaken den in Schutz nehmen möchten, welcher zur Rettung der Unglücklichen allein in Feindeshand zurückbleibe. [1]

Von acht Uhr an marschirten wir gegen die Katscha, welchen Fluß die Russen ohne Opposition frei gegeben. Bald erfuhren wir, daß sie sich sogar auch hinter den Belbeckfluß zurückgezogen hatten, so daß wir ohne Hinderniß vordrangen, bis wir den weißen Leuchtthurm von Sebastopol hinter den Hügeln hervor und über Steppen und grüne Thäler hinwegschimmern sahen. Um drei Uhr bekamen wir die herrlichen grünen und üppig bewaldeten Ufer der Katscha zu Gesicht. Lord Raglan ritt mit seinem Gefolge weit voraus zum größten Erstaunen eines preußischen Offiziers unter uns, der laut erklärte, daß dies ganz gegen alle Kriegsregeln sei. Allerdings hätten ihn ein paar hundert Mann Kavallerie von uns abschneiden und gefangen nehmen können, aber es schien ihm darauf anzukommen, Verachtung vor den gefürchteten Kosaken zu zeigen. Später zog er sich beim Anblick eines Feindes noch zu rechter Zeit zurück.

Die Katscha ist ein schmales, reißendes Flüßchen mit steilen Ufern wie die Alma. Ihr ganzer silberner Lauf zwischen dem üppigsten Grün war durch niedliche, weiße Häuser und Hütten besternt mit den herrlichsten Obstgärten und Weinbergen, aber nirgends waren Bewohner sichtbar. Das erste Gebäude auf unserm Marsche selbst war ein kaiserliches Posthaus mit einer Säule und dem doppelten Adler. Ein blau- und weißgeringelter Meilenzeiger sagte uns, daß wir noch 10 Meilen (englische, etwas über zwei deutsche) von Sebastopol entfernt waren. Im Posthause war alles ausgeräumt und die Immobilien beschädigt und zerhackt. – Zwischen niedrigen Wänden, über die sich Obstbäume mit reifen Früchten überladen schwer herabneigten – die willkommenste Erquickung für uns in der Hitze, welche der kalten feuchten Nacht gefolgt war, ging unser Marsch weiter, bis wir eine Villa erreichten und Halt machten, um unsere herrlichen Aepfel, Birnen, Aprikosen, Pfirsiche und ungeheuere, würzige Weintrauben in einiger Ruhe zu verzehren. Die Villa, einem Landarzte gehörig, war von den Kosaken auf das Entsetzlichste total ruinirt und verwüstet worden. Eine Veranda, herrlich überwölbt von Rosen, Jasmin und mir unbekannten Blumen, lag voller zerschlagener feiner Meubels. Jede Scheibe war zerbrochen. Die Weinfässer lagen zerschlagen in ihrem Weine. Massen verschiedenen Getreides bedeckten den Boden, die feinsten Glas- und Porcellanwaaren die ganze Küche. Vor der Thür saß nur ein lebendes Wesen, eine zutraulich an heißer Sonne blinkende und schnurrende Katze. Der Anblick des Innern läßt sich nicht leicht schildern. Große Trumeaux zerschmettert und zerschlagen, Betten aufgerissen und die Federn umhergestreut über Ruinen von Sopha’s, Stühlen, Tischen, Fauteuils, Bücherschränken, Bildern und Rahmen, Heiligenbildern, Medizinflaschen, weibliche Handarbeiten, Büchern, Schuhen und Stiefeln! Alles zerrissen, zerschmettert, zerschlagen und chaotisch durcheinander gerissen. Selbst Thüren, Thore und Wände waren zerhackt und zerhauen. Hier sah ich, was Barbarei, was Vandalismus ist. Es ist zwar „kriegswissenschaftlich,“ dem Feinde möglichst alle Nahrungsquellen vor der Nase zu zerstören, aber schwerlich hätten wir Sopha’s, Thüren und Wände eingesteckt. Jetzt glaubte ich es, daß die Einwohner von Odessa für den Fall, daß wir Miene machten, es zu nehmen, Befehl erhalten hatten, die ganze herrliche Stadt der Erde gleich zu machen. Opferte man doch einst Moskau, obgleich dies ein ganz anderer Fall war, nämlich der Fall Napoleon’s, während wir ohne Odessa auf die verschiedenste Weise uns gut überwintern könnten.

Unsere Leute und Pferde schwelgten in Weintrauben und Getreide, während wir bis Eskel vorgingen und uns in dem Hause eines hohen russischen Offiziers niederließen, so weit dies die Trümmer ehemaliger Herrlichkeit zuließen. Alle Häuser des Dorfes waren auf ähnliche Weise zerstört, wie das beschriebene und immer desto wüthender und gründlicher, je vornehmer sie gewesen waren. Ein merkwürdiger, schon oft bewährter Beleg des tückischen Hasses der Rohen und Verwahrlosten gegen die Bildung – eine Thatsache, ein Zug, der von größerer geschichtlichen Bedeutung ist, als man bisher geglaubt. Wo die Rohheit und Verwahrlosung in einem Volke überwiegt, da herrscht sie und liefert der Despotie Werkzeuge, den Trieb nach menschlicheren Zuständen unter der cultivirten Minorität niederzuhalten. Hier ist der Schlüssel zu manchen scheinbaren Räthseln der Geschichte von Marius bis auf die neueste Zeit. Das hochgebildete Rom, das schöne Griechenland – beide gingen durch die Majorität gewordenen Sklaven unter und zerfielen in Barbarei. Amerika, das der Sklaverei durch Congreßbeschluß neues Terrain verschaffte, hat hier, wenn irgendwo, seine Achillesferse. – Man kann sich und seinen Kindern keinen größeren Dienst erweisen, als die Kultur der Massen zu fördern. Der amerikanische Grundsatz: Man muß das Volk unterrichten und bilden, damit es uns nicht gefährlich werde, ist der einzige gesunde in der Politik, nur daß die Amerikaner (auch die im Norden) durch ihre Brandmarkung jedes Menschen, der noch ein Tröpfchen „Farbe“ an sich hat, diesem Grundsatze und sich selbst ein Grab graben.

Doch wie komme ich auf meinem Marsche gen Sebastopol zu dieser Weisheit? I nun, wir brauchten es nicht zu fürchten und nicht zu erobern, wenn dieser Grundsatz auch in Rußland gälte. Sah ich doch, daß die Barbaren nicht immer das Bild des Kaisers, welches man neben silber- und goldumstickten Heiligen fast in jedem Hause fand, geschont hatten. Die Häuser bestehen fast alle nur aus einem Stockwerk. Was ihnen an Höhe abgeht, sucht man durch Tiefe und Breite zu ersetzen. Jedes steht einzeln malerisch hinter niedrigen Wänden und Obst- und Blumengärten und Bäumen. Fast jedes hat eine schwer mit Wein bedeckte Vorhalle. Die Zimmer waren da, wo die Zerstörung nicht eingedrungen war, überall sehr rein und sorgfältig geweißt. Große Räume daneben mit Weinpressen und Ackerwerkzeugen, Ställen und Schuppen vollenden des Krim-Bauern Haus und Hof.

Nach Uebernachtung an den Ufern der Katscha marschirten die alliirten Truppen am heißen 24. September, einem Sonntage, mit Zurücklassung einer neuen, großen Masse Verwundeter, Kranker und Todter (jedoch ohne einen Feind gesehen zu haben, als weitere Folgen der Schlacht und die Cholera) durch rauhe hügelige Gegenden nach dem Flusse Belbeck und einem Dorfe gleichen Namens bis 3/4 deutsche Meilen nordöstlich von Sebastopol und am 25. vor Sebastopol vorbei bis Balaklava am Meere, ohne jemals vom Feinde behindert zu werden. Spuren der russischen Flucht, Todte, Sterbende, Kleidungsstücke, zerbrochene Waffen, Wagen u. s. w. fand man sehr oft auf dem Marsche. Das Vordringen nach Balaklava, im Angesichte der gefürchteten Festung mit einer dichtgedrängten Armee von Kanonen und Soldaten, wird strategisch als eine der kühnsten Bewegungen, die jemals in einem Kriege vorkamen, bezeichnet. Der Weg nach Balaklava ist ohnehin enge und von allen Seiten von Berg und Wald eingeschlossen, so daß der Feind unendlichen Schaden thun, wo nicht den ganzen Marsch hätte verhindern können, wenn er ihn vermuthet und für möglich gehalten hätte. Durch dichten Wald und zwischen Bergen hindurch schimmerten oft die weißen Häuser von Sebastopol, in dessen Kanonenbereiche oft ganze Abtheilungen hinmarschirten, ohne jemals Bekanntschaft mit deren Tragweite zu machen. Nur ein Mal bekamen die Alliirten ein russisches Corps zu Gesicht, das aber durch einige Rifle-Salven


  1. Dr. Thomson ist in Folge seiner Anstrengungen gestorben.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_540.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)