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Blätter und Blüthen.

Werther. Der in Deutschland gestorbene, begrabene, und mit seinem zahlreichen Gefolge fast vergessene Werther ist in Frankreich wieder erstanden, hält in Paris, im sinnlich-frivolen Paris seinen Umgang und holt sich tagtäglich seine Opfer. Es ist aber nicht der deutsche Platoniker, der für die Natur schwärmt, die Odyssee liest und sich in Ossian’s Nebelgebilden berauscht, nicht der schmachtende poetisirende und philosophirende, nicht einmal der gebildete Werther, der hier umgeht und die Herzen bestrickt; nur seine alte sinnliche Glut und das Ziel seiner Fahrt hat er bewahrt, sonst aber hat er sich in Zeit und Ort gefügt und ist ein ächtes Pariser Stadtkind geworden, dessen Augen niemals über jene Hügel hinauszustreifen begehrten, die den breiten Seinekessel mit den umzäunten Gärten, Parks, Städten, Dörfern und der immensen Häusermasse umgürten, die man Paris nennt. Zehnstündige eintönige Arbeit trocknet das Herz nicht aus, und der Arbeiter, dessen Gefühle für das Allgemeine gewaltsam erstickt wurden, hat oft nur noch Einen Gedanken, Eine Empfindung, die ihn ganz erfüllt und ihn bald auf die Triumphpforte führt, die Apotheose des französischen Ruhms, bald auf die Julisäule, die Verherrlichung der Freiheit, (deren Genius bedeutsam genug schon bei der Errichtung entfliegend gedacht wurde,) um von dort aus der Liebe wie dem Leben zu entfliehen. Ein ächt französischer Tod mit Eclat, der aber nicht selten auch mit dem langsamen Ende neben der Kohlenpfanne in stillen unbelauschten Stübchen abwechselt. Und es vergeht fast kein Tag, wo die Liebe, seltener die Noth der Zeit, ein und mehrere solche Opfer fordert. Gestern war es ein braves Dienstmädchen, das den Tod der Ertragung seines Kummers vorzog.

Charlotte ist einundzwanzig Jahre alt, hübsch und fleißig, ihrer Herrschaft werth wie Allen, die sie kennen. Sie hat ihren Dienst gekündigt, denn sie ist Braut eines wackeren tüchtigen Arbeiters, der sich so viel erspart hat, um ein eignes Geschäft zu beginnen. Zur Fastnacht soll schon Hochzeit sein und das Mädchen erhält die Erlaubniß, zu ihrem Geliebten zu gehen, um mit demselben noch einiges Hausgeräthe anzuschaffen. Sie geht ein Lied trällernd frohen Sinnes weg, sie kommt nicht so zurück. Sie hatte in der Zwischenzeit ihren Bräutigam gesehen, aber Einkäufe hatte sie nicht mit ihm gemacht. Denn als sie in sein Zimmer trat, lag er vom Schlage gerührt auf dem Bette, von Freunden umgeben, sterbend. Er erkannte sie nicht mehr, in deren Armen er aus dem Leben schied. Schweigend geht Charlotte heim und erhält die Erlaubniß sich zurückziehen zu dürfen. Als sie andern Morgens zur gewohnten Stunde nicht erscheint, wird man besorgt um sie, man dringt in ihr Stübchen und findet sie kalt und starr, die ausgebrannte Kohlenpfanne neben dem Lager, in den Händen einen Brief an ihren Geliebten in der Ewigkeit, den sie am Abend geschrieben. Auf dem Tische lag ein Zettelchen, worauf stand, man möchte ihr den Brief mit in den Sarg legen. – Das ist eine Liebe, welcher die feine Welt nicht mehr erliegt, die die Forderungen des Herkommens durch Vernunftheirathen zu befriedigen und die innere Leere durch kostspielige femmes entretenues auszufüllen sucht.

Ein anderer rührender Fall kam jüngst vor. Einem Arbeiter stirbt sein liebes Weib, mit dem er seit einem Jahre verehlicht war. Er läßt ihr ein Denkmal auf dem Montmartre setzen, und bringt jeden Sonntag frische Kränze hin. Seine freien Stunden an den Arbeitstagen bringt er damit zu, das Denkmal der Geliebten im Kleinen nachzumachen und es mit allen ihm gebliebenen Erinnerungen der Hingeschiedenen zu verzieren. Als dasselbe fertig ist, ladet er seine Freunde zu einem festlichen Mahle ein, dem er in der heitersten Stimmung beiwohnte. Es war sein Abschiedsmahl, am nächsten Morgen fand man ihn vom Kohlendampf erstickt. Ist das nicht rührend?

Doch nicht blos der Schmerz über den Tod oder die Untreue der Liebe fordert Opfer, auch der Ehrgeiz, die Eitelkeit, was im französischen Nationalcharakter erst recht begründet ist. Da wohnte ein ehrsamer Schneider in der rue Moudar, der von einem seiner Hauptkunden einen bedeutenden Auftrag erhielt, unter der Bedingung, daß die Kleider bis zu einer bestimmten Stunde fertig sein sollten. Der Schneider sagte zu, konnte aber die Zeit nicht einhalten. Der Kunde wurde ihm nun untreu; das ging aber dem Kleiderkünstler so zu Herzen, daß er sich das Leben nahm. Er verließ das Diesseits mit der Bitte, daß man ihm im Sarge einen Paletot anziehen solle, den er für sein Meisterwerk gehalten. Der Erfüllung dieses Wunsches stand eine Verordnung entgegen und der Meister kann nun nicht vor St. Petrus in seinem Musterpaletot paradiren. Er wurde begraben wie ein Anderer.




Ein Besuch bei Omer Pascha. Ein vom „London Journal“ in’s türkische Lager gesandter Correspondent schreibt in seinem ersten Briefe: „Schumla den 16. Decbr. 1853. – Ich schickte meine Empfehlungsbriefe sofort zu Omer Pascha und bekam schnell die Antwort, daß er bereit sei, meinen Besuch anzunehmen. Demgemäß begab ich mich ohne Verzug in sein Bereich, eines der besten Häuser des Ortes, obgleich es in Europa ärmlich genug aussehen würde. Durch einen Thorweg kam ich in einen Hof, von welchem eine Treppe außen in das erste Stockwerk führt. Ich stieg hinauf und fand mich zunächst unter einer bunten Mischung von Offizieren und allerhand fremdartigen Gestalten. Ich ließ mich melden und wurde sofort in sein Zinmer geführt, eine große Räumlichkeit, deren drei Seiten mit Divans bedeckt waren. In der Mitte stand ein Mongol, ein großes Kohlenbecken, am obern Ende ein großer Kamin, dessen Architectur an eine Moschee erinnert. Stühle und Tische gab es nicht. Omer Pascha saß auf dem Divan, nahe am Feuer, mit einem großen Chibuck (türkischen Pfeife) zur Seite, inmitten von Papieren und Karten. Etwas fern von ihm saßen drei Paschas ebenfalls mit Pfeifen, aber nicht rauchend. Nach türkischer Etikette müssen sie dazu erst aufgefordert werden. Er fing mit mir ohne Förmlichkeit ein langes Gespräch in französischer Sprache an, die er flüssig spricht. Doch ist Italienisch seine eigentliche Muttersprache, obgleich er auch gut Deutsch, Türkisch, Ungarisch und Armenisch verstehen soll. Was mir zuerst an ihm auffiel, war, daß er nicht die geringste Aehnlichkeit mit den vielen Portraits hatte, die in England und Frankreich von ihm erschienen. Er sah überhaupt nicht so barsch aus, als er mir in der Phantasie erschienen war. Man denke sich den großen Schnurrbart, der seinen Mund bedeckt, und den grauen Bart darunter hinweg, und er muß wie ein ganz feiner Engländer aussehen, der natürlich dann einen röthlichen Backenbart und hinten gescheiteltes Haar haben muß. In seinen Augen leuchtet etwas Sanftes, Gutmüthiges, Aufrichtiges, das sofort alle Befangenheit verscheucht. Er vereinigt Bonhommie mit Manneswürde. Nach und nach entdeckt man in dem Gesichte die Züge herkulischer Willenskraft und Kühnheit. Die Falten im Gesicht sind massiv, wie in Stein gehauen. Man sieht, daß er viel in sich gekämpft und gearbeitet haben muß. Sein Geist thront auf der Stirn. Mitten im Gespräche zuckte zuweilen das Auge unter den gewaltigen Brauen, und ich dachte jedesmal an den in Zorn gebrachten Löwen. In seinem äußern Benehmen ist er vollkommener Weltmann, höflich und unerschöpflich geduldig. Seine Bemerkungen, selbst über Dinge, die kein näheres Interesse für ihn haben konnten, verrathen Scharfsinn und vielseitige Bildung. Seine genaue Kenntniß der englischen politischen Verhältnisse überraschte mich, doch war er zu höflich dem Engländer gegenüber indirect zu urtheilen. Er urtheilte gewöhnlich in fragender Form! In Bezug auf andere Staaten war er offener und sprach ganz unverholen seine Ueberzeugung aus, daß auch England, falls es auch vorläufig wieder einen Frieden erkünstle, über Kurz oder Lang den entscheidenden Kampf mit Rußland durchmachen müsse, denn beider Staatsprincipien (oder vielmehr Volksrichtungen) seien sich so entgegengesetzt, daß beide Staaten nicht große Staaten in Europa bleiben könnten. Es kann keine Indiscretion in Mittheilung dieser Aeußerungen liegen, da er sich ganz in derselben Weise stets ganz unverholen gegen alle Engländer und sonstige Fremde, die ihn besuchten, aussprach.“




Ein interessanter Provocationsprozeß schwebt jetzt beim Berliner Stadtgericht. Ein wohlhabender Brasilianer, welcher sich hier seit einiger Zeit als Fremder aufhält, führt einen Sklaven bei sich. Dieser Sklave beansprucht gegenwärtig seine Freiheit, weil es in Preußen keine Sklaven giebt. Derselbe will sich anderweitig vermiethen und hat deshalb eine Provocationsklage gegen seinen Herrn eingeleitet, damit dieser seine angeblichen Rechte beweise. Das Stadtgericht hat die Klage auch angenommen und den Justizrath Straß dem Sklaven als Kurator bestellt. Ein Prozeß dieser Art ist bisher hier noch nicht verhandelt worden. Nach dem alten Landrecht bleiben den Fremden ihre Rechte an den Sklaven, welche sie bei sich führen, vorbehalten, nur dürfen sie solche nicht gefährlich mißhandeln. Es fragt sich nun, ob diese Bestimmung durch neue Gesetze aufgehoben ist. Wenn dieses auch nicht der Fall ist, so fragt sich weiter, wie will der Herr sein Recht an dem Sklaven hier beweisen, da die Zeugen für den Kauf hier gar nicht zu beschaffen sind. Man ist auf den Ausgang des Prozesses sehr gespannt.




Der Strafarbeiter seiner selbst. In Zürich ist in diesen Tagen ein gewiß eigenthümlicher Fall vorgekommen. Ein Baumeister H. hatte in der dasigen Strafanstalt zweiundzwanzig Mann zu ein Frank per Tag bestellt, um in einer der ihm zugehörigen Steingruben zu arbeiten. Er hatte für eine Woche Arbeit. Nun traf es sich, daß derselbe Baumeister unlängst eines Injurienhandels wegen vom Polizeirichter zu ebenso langer Zeit Gefängniß verurtheilt, gerade zur selben Zeit seine Strafe absitzen mußte. Der Verwalter fragte den verurtheilten, womit er sich während seiner sechs Tage zu beschäftigen gedenke, ob etwa mit Copiaturen, Buchführung u. dgl. Dieser gab lachend zur Antwort: „He! laßt mich nur in Baumeisters H. Steingrube arbeiten!“ Wie gesagt, so geschehen. Man sah also den Herrn Baumeister an sechs unmittelbar auf einanderfolgenden Tagen in seiner eigenen Steingrube von Morgens früh bis spät Abends beschäftigt, und die einundzwanzig andern Sträflinge erkiesten noch dazu den vornehmen Herrn Collegen zu ihrem „Hauptmann.“ Das praktische Publikum der Schweiz hat sich mit diesem Hergange ganz einverstanden erklärt und der Held der Geschichte selbstverständlich auch.




Gudin bei Hofe. Der berühmte französische Maler Gudin wurde einmal zu einem glänzenden Mahle des Herzogs von Cambridge in London (dem Onkel der Königin) geladen und unter andern großen Herren von Rang und Stand dem Herzog vorgestellt: „Gudin, der berühmte französische Maler.“ Verbeugung, weitere Vorstellungen Anderer. Nach einiger Zeit frug der Herzog: „Wer war das? Was ist er? Maler ist er? Groß, wie groß? Großer Maler? Stellen Sir mir ihn noch einmal vor. Ihre Majestät liebt Gemälde. Er muß bei Hofe vorgestellt werden.“ Ein Cermonienmeister flüsterte ihm dabei in’s Ohr, daß er als Maler nicht hoffähig sei, aber als ein ehemals französischer Offizier sei er zulässig. Der Herzog machte Gudin demgemäß den Vorschlag, er möge sich in der Uniform einen Offziers einfinden, wenn es ihm daran gelegen sei, bei Hofe Zutritt zu finden. Gudin erhob sich in seiner vollen Größe und antwortete: „Der König von Frankreich machte mich zum Lieutenant. Gott zum Maler. Ich werde als Maler zur Königin gehen oder gar nicht.“





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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