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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Lebens- und Verkehrsbilder aus London.

Von Heinrich Beta in London.
Was die Schaufenster sind. – Folgen der Schlacht von Waterloo. – Blücher’s Urtheil über London. – Heller Tag bei Nacht. – Ein Prachtladen. – Vor funfzig Jahren und jetzt. – Die Kosten eines Gewölbes und das Budget eines deutschen Fürstenthums. – Gaunerei in Läden. Die Schattenseiten eines freien Handels und Wandels.

Schaufenster und Läden sind Titelblätter und Inhaltsverzeichnisse einer ganzen Cultur. In London, wo die Blüthen und Früchte der Cultur aller Nationen der Erde am Dichtesten zusammenströmen, vertreten sie, wie eine immerwährende, erweiterte Ausstellung die höchste Gesammt-Civilisation der Erde. Man braucht nicht in Bibliotheken und Museen diese Bücher durchzustudiren, nicht Reisen um die Erde zu machen, um die Welt kennen zu lernen und Weisheit zu sammeln; wer diese offenen Bücher in verständlicher Sprache und redenden Bildern zu lesen und sehen versteht, weiß bald in der ganzen Welt Bescheid. Welche Wunder des Fleißes und der Geschicklichkeit, der Entdeckung und Erfindung, der Kunst und Wissenschaft, des Wohlstandes und Reichthums, des Muthes und der Kühnheit, der Arbeit und Ausdauer, von Gefahren und Erfolgen. Was auch die Kunst Rühmliches, die Wissenschaft Stolzes schuf, das Schaufenster stellt es offen hin vor alle Welt. Im Schaufenster zu prangen, ist die höchste Spitze des Ruhms und des Lohnes, den ein Unternehmen, ein Verdienst erreichen kann. Für das Schaufenster, für den Ladenbesitzer pflügt das Schiff des Meeres den Ocean und „das Schiff der Wüste“, das Kameel die Sandmeere Afrika’s; für das Schaufenster steigt die Wissenschaft über die Wolken und die Industrie in die Schachten; der indische Taucher holt ihm Perlen aus dem Meeresgrunde und der Mexikaner Erze aus ungeheuren Klüften; für den Ladenbesitzer ächzt und kämpft die Dampfmaschine athemlos über Fluthen und Gebirge, für ihn ist der Blitz des Zeus Briefträger und die Sonne des Himmels Lithograph geworden. Das Schaufenster und der Laden zeigen allen Ständen und Klassen, ohne Ansehen der Person, in der gefälligsten, verständlichsten Form, was die einzelnen Arbeitsklassen, was eine Nation, was die Welt werth ist, was sie gethan hat, thut, will und kann, um es der Menschheit bequem, angenehm und „comfortable“ auf der Erde zu machen. Sie zeigen mit einem Blicke, auf einem einzigen Spaziergange, wie weit es der Mensch in Ueberwindung der Natur, in Vergeistigung, Veredelung und Schönheit ihrer rohen Kräfte und Materialien gebracht hat.

Die Engländer waren von jeher am Liebsten Handelsleute und Krämer, doch erst der neuern und neuesten Zeit, welche Waaren, Geschmack und Geschick vom Continente dazu herüberschaffte, blieb es vorbehalten, eine ganz neue Wissenschaft und Kunst des Ladenhandels auszubilden. Das neue Laden-London entstand erst nach der Schlacht bei Waterloo, nach Erfindung der Gasbeleuchtung und der Spiegelscheiben und mit dem Fortschreiten auf der Bahn des Freihandels. Die deutschen und französischen Kunst-Industrie-Schöpfungen findet man am Schönsten und Massenhaftesten in London. Von ihnen lernten die Engländer Geschmack, mit ihnen machten sie Geld genug, um ihnen geschmackvolle, prächtige Tempel zu bauen.

Wer Cheapside, Strand, Oxfort- oder Regentstreet seit 30 Jahren heute wieder zum ersten Male sähe, würde keinen einzigen Vergleichspunkt mehr herausfinden. Man stelle den Vergleich bei „Lichte“ an. Damals schmuzige, löcherige, lebens- und taschengefährliche Straßen, aus deren spärlichen, schmuzigen Schaufenstern einige kurzsichtige Oellampen oder Talglichter sich vergebens anstrengten, nur die Finsterniß etwas sichtbar zu machen; die Ladenthür geschlossen und nur vorsichtig auf besonderes Klingeln geöffnet. Alles todt und trübe, nur Leben in den knarrenden, quiekenden Ungeheuern von Schilden und Symbolen, die im Winde oben geisterhaft auf das trübe Licht herabdrohten. So sah’s noch aus in dem Jahre, als bei Waterloo gefochten ward, so sah es Blücher, der beim ersten Anblick London’s ausrief,: „Jott, wat eene prächtige Stadt vor’s Plündern!“

Und jetzt? Jetzt verkündet die sinkende Sonne den anbrechenden Tag. Solch ein Licht, wie die Gasflammen der großen Klein-Industrie bis in die engsten Straßenwinkel verbreiten, gelingt der Sonne in London nicht am heitersten Sommertage. Breite, fließende Ströme des Lichts lodern oft hundertweise in den engsten Straßen und züngeln und flimmern um solche Massen aufgebauter und aufgeschichteter Vorräthe aller möglichen Art und Abkunft herum, daß man glaubt, selbst London könne dies nicht Alles vertilgen. Nur eine große unsichtbare Krystall-Wand trennt den barfüßigen, zerlumpten Kreuzfeger, der die Straßenübergänge kehrt, von den kostbarsten Schätzen dahinter, und er würde sich wenigstens die Nase an den Spiegelscheiben platt drücken, wenn nicht massive Metall-Barren ihm ein ehrerbietiges Halt zuriefen.

In Fleetstreet ist jetzt ein Rahmen- und Spiegelladen vollendet worden, dessen zwei untere Stockwerke von Spiegelscheiben bestehen, welche je nur Eine Scheibe bilden. Gehen wir in einen dieser Prachtläden, so sieht man nach Oben und in der Perspektive oft kein Ende. Ueber den Galerien oben wölben sich Himmelslichter (Fenster im Dache oben) und an den Zahltischen hin haben wir schon 80 Diener auf einmal beschäftigt gesehen. In Tottenham Court Road sind in einem Schnittwaarengeschäfte über 200 Diener beschäftigt. Am Eingange empfängt uns ein Ceremonienmeister mit weißem Halstuche und ganz neuen Handschuhen und führt uns in dem Labyrinthe von Waaren just zu dem Orte, wo wir für 1 Schilling 6 C. oder 2 Schilling 101/2 C. ein Paar Handschuhe und das Kupfer in einem eleganten Enveloppe zurück bekommen, damit wir unsere Finger nicht durch Berührung des gemeinen Metalles zu entweihen brauchen. Auf dem Wege in diesem Laden treten wir geisterhaft, ungehört auf die weiche, bunte Wiese eines Teppichs, dessen zarte Halme bei jedem Tritte einsinken, wie junges Gras, und unser eigenes Bild begleitet uns oft von beiden Seiten und wundert sich aus den großen Spiegeln heraus über unsere Thorheit, daß wir hier beim Kauf von ein Paar Handschuhen alle diese Pracht mit bezahlen helfen. Warum gehen wir nicht in eine, oft dicht angrenzende, wohlfeile Gegend? Wir können’s, nur der Mann und die Frau und die Tochter der hohen Gesellschaft, welche mit Pferden und gepuderten Dienern vorfahren, können und dürfen es nicht und wollen es nicht: sie wollen den Vorzug haben, den doppelten Preis für Alles zu zahlen, um selbst im öffentlichen Laden mit keinem Menschen ohne Geburt und Geld zusammen zu treffen.

Noch vor 50 Jahren waren die meisten Läden kleine, gemüthliche Kramläden, die ihren Mann ernährten und beschäftigten und nicht mehr, und dabei betrug die Zahl derselben kaum den vierten Theil. Jetzt sind viele in Regent-, Oxford-, Fleetstreet, St. Paul Church Yard u. s. w. jeder eine Welt, eine kleine Stadt für sich. Mancher einzige Laden ernährt 100 Familien in ihren eigenen Häusern draußen vor der Stadt, von wo die Diener Morgens hereingefahren kommen. Ein einziger Theeladen in Ludgatehill schickt alle Morgen 20 beladene Wagen hinweg, lauter Pfunde, Viertelpfunde, sogar Lothe, die den Kunden alle einzeln vor’s Haus gefahren und fein gepackt überliefert werden. Manch einzelner Laden füllt 5 – 6 Häuser neben und hinter einander und der Eigenthümer hat noch andere Geschäfte in andern Stadttheilen und 50 – 60 – 100 in andern Städten Englands. Solcher Gliederungen einzelner Detailgeschäfte durch das ganze Land, oft mit Filialen in den Colonien und in Amerika oder China giebt’s in großer Menge. Ein Laden in Lombardstreet mit lauter chinesischen Artikeln beschäftigt in Kanton Hunderte von Menschen für seine alleinige Rechnung. Der Unterschied zwischen Engros- und Detailgeschäft, einst so scharf geschieden und durch besondere Gesetze getrennt gehalten, verschwindet in diesen Tagen mit zunehmender Geschwindigkeit. Schon die große Firma „Dombey und Sohn“ vereinigte Beides. Eben so übermächtigen die großen Detailgeschäfte zusehends die Reste kleiner Kramläden, die mit eigenem Fleiße und Capitale sich zu nähren suchen. Das mächtige Capital tritt auch hier immer gewaltiger in Association auf, und Beschaffung von Rohmaterialen, drei- bis zehnfache Veredelung und Verarbeitung derselben und deren Verkauf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_007.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2020)