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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

„Rübezahl.“

Keine Dichtung aus dem Leben eines deutschen Dichters.
Von Ludwig Storch.


Himmelfahrt ist in unserm rauhen Norden in der Regel das erste sonnige Frühlingsfest. Jede deutsche Stadt hat ihren besondern Land- und Vergnügensort, wohin sie ihre Bevölkerung zu Himmelfahrt schickt. Es ist wirklich eine Fahrt in den irdischen Himmel der jungen Frühlingsfreude. Man muß die lebenslustige Frau eines nicht minder heitern deutschen Professors sein, der eine starke Ausnahme von der Regel macht und Zopf und Haarbeutel - auch die ideellen und metaphorischen - längst abgeschnitten und dem Teufel der gelehrten Pedanterei zugeschickt hat, obgleich man erst im Jahre 1782 nach Christi Geburt lebt, man muß im schönen Weimar wohnen, wo der junge geniale Herzog Karl August glänzenden Hof hält, wo seine Mutter, die treffliche Herzogin Anna Amalia, selbst noch von den Göttern der Jugend, Anmuth und Schönheit umwaltet, in Tieffurth alle Herzen entzückt, wo Adel und Beamtenthum Pracht und Wohlhabenheit entfalten und wo der Herr Geheime Rath und Kammerpräsident von Goethe für sinnreiche Feste und poetische Unterhaltung sorgt; man muß das Alles so zusammen haben, und wegen Mangels eines modischen Envelöppchens oder eines neuen Hutes zu Himmelfahrt nicht nach Tieffurth können, wohin wahrscheinlich die ganze weimarische Welt strömen wird, um nicht eben so in stiller Verzweiflung zu sein, wie es die Frau Professorin Musäus wirklich war, als nur noch zwei Tage zwischen heute und Himmelfahrt vorhanden waren, nirgend aber sich eine Aussicht zeigen wollte, wie die besagten Paradestücke annoch anzuschaffen sein möchten.

Es ist stets ein großes Mißverhältniß zwischen der gesellschaftlichen Stellung und der Besoldung der Professoren an den deutschen Gelehrtenschulen gewesen. Sie gehören zu den vornehmen Ständen und sollen mit drei oder vierhundert Thalern Besoldung allen Ansprüchen genügen, welche die Welt an diese Stände macht. Jedermann verlangt und die Frau Professorin verlangt es auch, daß sie gerade so geputzt einhergehe, wie die Frau Präsidentin oder die Frau Commerzienräthin, deren Männer jährlich so viel Tausende einnehmen, wie der Herr Professor Hunderte. Schulden dürfen nicht gemacht werden; denn wovon sollten sie denn bezahlt werden? und das Oberconsistorium, die Behörde des Herrn Professors, ist in diesem Punkte abgeschmackt streng, macht in vorkommenden Fällen ganz fatale Abzüge von der Besoldung und droht wohl gar im Wiederholungsfalle mit Absetzung. Da soll’s nun an der Bibliothek, am Frühstück und Abendbrot des Herrn Professors erspart werden. Du liebe Zeit! Das läßt sich der gelehrte Hausvater, wenn er eine gute Haut ist – und deutsche Professoren sind in der Regel gute Häute - eine Zeit lang gefallen, hernach braucht er aber doch Bücher für die geistige und eine Flasche Wein für die leibliche Nahrung (vorzüglich wenn eine so starke poetische Ader in ihm pulsirt, wie in dem lieben trefflichen Musäus), und die Frau Professorin hat feuchte Augen; denn das Fest rückt heran und der neue Hut fehlt und das Envelöppchen. Diese häusliche Noth hat schon manchen guten deutschen Professor zum Schriftsteller gemacht und auf die schlüpfrige Bahn der Oeffentlichkeit hinaus getrieben.

Johann Karl August Musäus hatte schon zwanzig Jahre früher als Candidat des heiligen Predigtamts in Eisenach seine Schriftstellerlaufbahn mit einem guten Romane, dem „deutschen Grandison“ eröffnet, worin er mit Glück gegen die Narrheit ankämpfte, welche Richardson’s englischer „Grandison“ in deutschen Köpfen hervorgerufen, wie heutigen Tags die köstliche Onkel-Tomelei aus Amerika. Als Professor am Gymnasium zu Weimar hatte er dann vor vier Jahren - so lange hatte er geschwiegen - gegen eine andre grassirende Narrheit, die der gute Lavater aufgebracht und der sich selbst Goethe nicht hatte entziehen können, in seinen „Physiognomischen Reisen“, 4 Hefte, angekämpft; aber diese wenigen Schriften hatten ihm begreiflicher Weise auch sehr wenig Geld eingebracht. Die Herren Verleger pflegten vor siebzig Jahren noch weit geringere Honorare zu zahlen als heutiges Tags. Aber in Musäus lebte und webte ein echter Genius, die Besoldung war gering, die Frau hatte kleine Bedürfnisse, und er selbst war ja der gutmüthigste Mensch, den Gottes Sonne beschien. So schrieb er denn aus seiner gesunden Seele heraus schöne deutsche Volkssagen in seiner harmlosen, etwas breiten, aber köstlichen Weise, voll satyrischer Anspielungen auf geistige Zeitkrankheiten. Sie sollten einen Damm gegen die Thränenfluth sentimentaler Romane bilden, welche mit Goethe’s „Werther“ und mit Miller’s „Siegwart“ einige Jahre zuvor über Deutschland hereingebrochen war. Gegen diese kranke Empfindsamkeit konnte es kein besseres Mittel geben, als die gesunde Kost, welche Musäus in seinen „Volksmärchen der Deutschen“ auftischte. Wer kennt sie heute nicht diese lieblichen Schöpfungen eines gesunden poetischen Humors, die mit dem treuherzigen Kindeslächeln der Unschuld die süße Schalkhaftigkeit einer reinen Dichterseele vereinigen? Wer hat sich nicht an ihnen ergötzt in der Jugend und im Alter? Welches unverdorbene Gemüth hat nicht über den neckischen Kobold des Riesengebirges und seine strenge poetische Gerechtigkeit gejauchzt! O Rübezahl, der treffliche Berggeist, der unverhofft und mit den köstlichsten Späßen jedermann nach wahrem Verdienst belohnt, ist in Deutschland erst durch Musäus zu Ehren gekommen! Die deutsche Bildung verdankt den Volksmärchen von Musäus mehr als man meinen sollte. –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_490.jpg&oldid=- (Version vom 14.4.2020)