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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

No. 8. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Des Capitains Frau.

Eine amerikanische Geschichte.

Nach mehrjähriger Abwesenheit von meiner Vaterstadt, hatte ich kürzlich die Freude sie einmal besuchen zu können, und war nach einigen Tagen Aufenthalt dort, die ich auf das Angenehmste mit meinen Freunden verbracht, eben wieder im Begriff die stillen wohnlichen Straßen Philadelphias zu verlassen.

Noch vor der Morgendämmerung stand ich, zitternd von Frost, in meinen dicken Rock eingeknöpft an der Thür der Postoffice, während der Kutscher meinen Mantelsack oben auf dem Fuhrwerk festmachte.

Die Straßen lagen stumm und todt – kein Schritt war zu hören, als meine eigenen – Alles schlief – selbst die Nachtwächter, und sogar die Lampen schienen von der allgemeinen Schläfrigkeit angesteckt zu sein. Es war ein eignes wohlthuendes, ja ich möchte sagen stolzes Gefühl, in diesem Augenblick einen solchen Vorzug vor all meinen Mitbürgern zu besitzen – denn diese lagen sämmtlich besinnungs- und bewußtlos wie Schwalben im Winter oder Mumien in einem Catacomb, während ich allein Vernunft, Bewußtsein, Kraft und Energie besaß. Alle anderen waren perdu – eingeschlossen wie die gefangenen Genien, die Salomo auf Flaschen gezogen und in die See geworfen hatte. Ich aber konnte sie in einem Augenblick erwecken, – ich konnte sie im Nu aus ihrem Zauberschlaf erlösen oder – konnte sie auch eben so ruhig liegen lassen, bis ihre Stunde der Auferstehung von selber herannahte. Alles schlief – der Bürgermeister und die Eltermänner, der Rath, Civil und Militair, die Gelehrten, die Schönen, die Beredtsamen; Hausknechte, Hunde und Lastkarren – Dampf- und Patentmaschinen – selbst die Elemente schliefen.

Wär’ es nicht so verwünscht kalt gewesen, so hätte ich über die todtenähnliche Stille die über der Stadt lag förmlich philosophiren können; selbst jetzt aber konnte ich doch nicht umhin, diese wunderbar zweckmäßige Einrichtung der Natur zu bewundern, die solcher Art periodisch die sämmtlichen physischen Kräfte eines ganzen Volkes ruhen läßt. Nichts ist so wohlthuend als das geschäftige Treiben einer fröhlichen Menschenmenge – nichts so unheimlich, als ihre Ruhe. Wenn wir das erste beobachten, drängt sich uns ungefährt ein Gefühl auf, als ob wir auf eine stürmische wogende See hinausschauen – wir fühlen, daß keine menschliche Kraft im Stande wäre diese drängenden Massen zu hemmen; wenn der Schlaf aber seine Mohnkörner darüber streut, ist es als ob Oel auf die Wogen gegossen würde.

Ich hatte eben nur Zeit diese Bemerkung zu machen, als sich mir zwei Gestalten rasch näherten – zwei von Salomon’s Genien, ihrer Gefangenschaft entschlüpft, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_075.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2020)