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heutigen Tages unseren Frauen den Vorschlag machte, eine jede sollte sich ihre Robe wählen, so würde es unter ihnen eine ziemliche Anzahl geben, die ein einfaches Kleid allem phantastischen Schmuck unserer Weltdamen vorziehen würde.

Der Geschmack wechselt außerdem mit den Zeiten; und der Geschmack, der im Momente einer Revolution die Oberhand gewinnt, wird sicherlich ein einfacher sein. Die Gesellschaft hat wie das Individuum ihre Stunden der Verweichlichung, aber sie hat auch ihre heroischen Stunden. So elend sie auch sein mag, wenn sie sich wie heute nur der Verfolgung kleinlicher und töricht persönlicher Interessen hingibt, so sicher ist es auch, daß sie in großen Epochen einen anderen Anblick gewährt. Sie hat ihre Momente von Edelmut und Begeisterung. Und dann nehmen edle Männer das Wirkungsfeld ein, welches heute von Schwätzern eingenommen wird. Der Opfermut bricht sich Bahn und die großen Beispiele der Geschichte finden Nachahmung. Es gibt nicht viele Menschen, die soweit Egoisten sind, daß sie es nicht als beschämend empfänden, hinter Anderen zurückzustehen und die sich nicht wohl oder übel beeilen sollten in den Chorus der Großherzigen und Wackeren einzustimmen.

Die große Revolution vom Jahre 1793 bietet dafür eine Menge von Beispielen. Und gerade während der Krisen einer moralischen Wiedergeburt – bei den Gesellschaften ebenso natürlich wie bei den Individuen – sieht man jene erhabene Begeisterung, welche die Menschheit einen Schritt vorwärts machen läßt.

Wir wollen nicht die voraussichtliche Rolle dieser edlen Leidenschaften überschätzen; nicht auf ihnen baut sich unser Gesellschaftsideal auf. Aber wir übertreiben keineswegs, wenn wir annehmen, daß sie uns behilflich sein werden, die ersten schwierigsten Momente zu überwinden. Wir können nicht auf das beständige Walten dieses Opfermutes während des alltäglichen Lebens rechnen, aber wir können auf ihn für den Anfang zählen – und das ist alles, dessen wir bedürfen. Gerade in den Momenten, wo es das Terrain zu säubern, den Unrat, der sich während der jahrhundertelangen Unterdrückung und Sklaverei aufgehäuft hat, zu beseitigen gilt, bedarf die anarchistische Gesellschaft jenes Aufschwunges brüderlicher Empfindungen. Später wird sie leben können, ohne daß sie an den Geist der Aufopferung zu appellieren brauchte, da sie dann jegliche Knechtschaft beseitigt und dadurch eine neue Gesellschaft, in der sich Raum für alle Empfindungen der Solidarität findet, geschaffen haben wird.

Wenn sich übrigens die Revolution in diesem Geiste vollzieht, so wird die Privatinitiative der Individuen ein weites Feld der Tätigkeit finden, um die Nörgeleien der Egoisten zu vermeiden. In jeder Straße, in jedem Viertel werden sich Gruppen bilden und die Aufgabe übernehmen, ihre Mitbürger mit Kleidern zu versorgen. Sie werden ein Inventar aufstellen von dem, was die aufständische Stadt besitzt und werden auch in kurzer Zeit wissen, über welche Hilfsquellen sie in dieser Richtung verfügt. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Bürger in der Bekleidungsfrage dasselbe Prinzip wie in der Lebensmittelfrage befolgen werden: Aneignung nach Bedürfnis, falls Ueberfluß vorhanden

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/84&oldid=- (Version vom 21.5.2018)