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     Worauf stützt sich nun die Psychiatrie, wenn sie den Bewußtseinsinhalt des Patienten, daß er eine dämanologische Sinneswahrnehmung mache, als objektiv unrichtig bezeichnet? Sie gründet ihre Behauptung auf die Tatsache, daß nachweislich auch solche Personen, die wegen Zerstörung des Sinnesorganes oder der zugehörigen zentripetalen Nervenbahnen keine Sinneswahrnehmung mehr machen konnten, dennoch wiederholt das Bewußtsein hatten, mit aller Lebhaftigkeit Sinnesobjekte wahrzunehmen. Daraus mußte die Psychiatrie den Schluß ziehen, daß unter gewissen Umständen Vorstellungsbilder, welche an und für sich dem Menschen viel matter und unklarer bewußt sind als ein mit den Sinnen wahrgenommenes Objekt, so lebhaft ins Bewußtsein treten können, daß sie von diesem irrtümlich als wahrgenommene Bilder aufgefaßt und in die Außenwelt projiziert werden. Ziehen sucht diesen Vorgang, die sog. Halluzination im Vergleich mit der normalen Wahrnehmung folgendermaßen zu veranschaulichen:

R                   E    V 
O-------------------O----O

„Normalerweise erzeugt ein Reiz R in der kortikalen Empfindungszelle E eine Empfindung, und von dieser Empfindung bleibt in der Erinnerungszelle V ein Erinnerungsbild oder eine Vorstellung zurück. Normalerweise nimmt also die Erregung stets den Weg R E V. Bei der Halluzination kehrt sich dieser Verlauf um. Das in V niedergelegte Erinnerungsbild, die Vorstellung. versetzt E in Erregung und erzeugt hier die zugehörige Empfindung, d. h. – da ein R fehlt – eine Halluzination.“[1]

     Dieser einfachen und einleuchtenden Erklärung des Problems gegenüber erscheint die Hypothese des Einsiedlers außerordentlich kompliziert und mit unnötigen Schwierigkeiten belastet. Weil seine Zeit die Tatsache, daß „Halluzinationen“ auch nach Zerstörung der betreffenden Sinnesorgane auftreten, noch nicht kannte, mußte Antonius an einer realen Sinnesfunktion und einem realen Sinnesobjekt festhalten. Beim Sinnesobjekt türmen sich nun die Schwierigkeiten seiner Konstruktion auf. Es steht auch für Antonius fest, daß reale Objekte, z. B. Ungeheuer, Löwen, Bären, ganze Rotten von Soldaten nicht zugegen sind. Es müssen also Scheinobjekte sein. Zwar sind mir, so muß sich der Einsiedler sagen, bereits gewisse Vorstellungsbilder gegenwärtig; aber anderseits wirken doch auch die inhaltlich gleichen Scheinobjekte von der Außenwelt her auf meine Sinne ein und erhöhen meine Angst und Qual. Wie gelangen nun meine schreckhaften Vorstellungsbilder als Scheingestalten objektiv vor meine Sinne? Das kann zunächst nicht eine Wirkung irdischer Kräfte, aber auch kein Werk Gottes und der Engel sein. Denn diese bringen Ruhe und Freude. Wer anders bleibt da als Urheber der schreckhaften Scheinobjekte übrig als der Teufel mit seinen Dämonen? – Zu diesem Schluß mußten den Einsiedler seine eigenen Voraussetzungen führen. Man kann aber noch weiter gehen und sagen: Antonius brauchte bloß ein Kind seiner Zeit zu sein, um sich diese Lösung des Problems anzueignen. Wir


  1. Psychiatrie, Berlin 1894. S. 32 f.; vgl. B. Heyne, Über Besessenheitswahn bei geistigen Erkrankungszuständen (Seelsorger-Praxis XIV) Paderborn 1904, S. 5. – Unsere Studie faßt unter dem Ausdruck Halluzination den Tatbestand der eigentlichen Halluzination und den Vorgang der Illusion zusammen, da auf Grund der vita Antonii nicht festzustellen ist, ob der „Sinnestäuschung“ irgendein falsch gedeuteter Sinnesreiz (Illusion) zugrunde liegt oder nicht.
Empfohlene Zitierweise:
Joseph Stoffels: Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius. Ferdiand Schöningh, Paderborn 1910, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Angriffe_der_D%C3%A4monen_auf_den_Einsiedler_Antonius_814.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)