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Römerzeit nur nach den Kopien altgriechischer Werke zu spähen. Seneca und Tacitus heben sich wie Riesen über alle die Griechen ihrer Zeit empor.

Auch das Griechentum, das für Wilhelm von Humboldt das einzige war, verliert dadurch nicht, daß so viel mehr Arbeit anderen Gebieten zugewandt werden muß, die doch auch griechisch sind. Am klarsten wird auch das an der bildenden Kunst. Ihr galt die Lebensarbeit eines zu früh geschiedenen bedeutenden Forschers, Adolf Furtwänglers, und seine nur mit Mommsen vergleichbare Energie betätigte sich auf allen Gebieten der monumentalen Überlieferung; aber die Richtung auf die wahrhaft große Kunst hat er niemals aus den Augen verloren: er krönte sein Wirken in der Herstellung des äginetischen Heiligtumes, dem Pindar das Weihelied gedichtet hat. Ebenso werden die Historiker, die die Geschichte vom Orient nach Europa herüber verfolgen, nicht müde, erst recht dem freien griechischen Geiste zu huldigen. Es bedeutet einiges auch für das innere Verständnis der großen griechischen Klassiker, daß die Lehre vom griechischen Verse in Abkehr von modernen Systemen den Anschluß an die antike Tradition gefunden hat, hoffentlich etwas über sie hinausgekommen ist, und das endlich errungene Verständnis des Prosarhythmus hat auf die freie Schöpferkraft der Athener grade dadurch Licht verbreitet, daß die schulmäßige Gebundenheit der späteren erkannt ward, aus der doch wieder etwas so Großes erwachsen ist wie die Herrschaft des Reimes in aller modernen Dichtkunst. Das Höchste was wir den Griechen danken, ist die Wissenschaft: wie sie ward und bis zu den Athenern aufstieg, überschaut jetzt jeder leicht an den mit vollkommenster Sauberkeit bereitgestellten Dokumenten. Und auch den Dichtern sind wir hoffentlich etwas nähergekommen. Alle der menschlichen Vergangenheit zugewandte Wissenschaft strebt am letzten Ende danach, vergangenes Leben durch ihre Kraft wieder lebendig zu machen. In einem großen Kunstwerk ist das Leben niemals erstorben; es wirkt auf den Empfänglichen auch ohne geschichtliche Vermittelung. Aber diese ist unerläßlich, auf daß es wirke, wie sein Erzeuger wirken wollte. Zu seiner Seele den Zugang zu finden und zu zeigen, ist die Aufgabe des Interpreten. Die Philologie der Gegenwart darf sagen, daß sie diese Aufgabe begriffen hat; wieweit es ihr gelingt, sie zu lösen, wird erst eine Nachwelt schätzen, die es besser machen kann, weil sie über ein reicheres Material verfügt. Sie wird es aber nur besser machen, wenn sie nicht vergißt, daß Materialsammlung nur Mittel zum Zweck ist. Non fumuen e fuhyore, sed e fumo dare lucien.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/53&oldid=- (Version vom 15.9.2022)