Zeit wohnte, ließ er einen Stecken unter der Linde,
da jedermann vorbei gehen mußte, richten, legte einen
Hut drauf, und hatte einen Knecht zur Wacht dabei
sitzen. Darauf gebot er durch öffentlichen Ausruf:
wer der wäre, der da vorüber ginge, sollte sich dem
Hut neigen, als ob der Herr selber zugegen sey; und
übersähe es einer und thäte es nicht, den wollte er
mit schweren Bußen strafen. Nun war ein frommer
Mann im Lande, hieß Wilhelm Tell, der ging vor
dem Hut über und neigte ihm kein Mal: da verklagte
ihn der Knecht, der des Hutes wartete bei dem Landvogt.
Der Landvogt ließ den Tell vor sich bringen
und fragte: warum er dem Stecken und Hut nicht
neige, als doch geboten sey? Wilhelm Tell antwortete:
lieber Herr, es ist von ungefähr beschehen; dachte
nicht, daß es euer Gnad so hoch achten und fassen
würde; wär ich witzig, so hieß ich anders dann
der Tell. Nun war der Tell gar ein guter Schütz,
wie man sonst keinen im Lande fand, hatte auch hübsche
Kinder, die ihm lieb waren. Da sandte der Landvogt,
ließ die Kinder holen, und als sie gekommen waren,
fragte er Tellen, welches Kind ihm das allerliebste
wäre? Sie sind mir alle gleich lieb. Da
sprach der Herr: Wilhelm, du bist ein guter Schütz,
und find’t man nicht deins gleichen; das wirst du mir
jetzt bewähren; denn du sollst deiner Kinder einem
den Apfel vom Haupte schießen. Thust du das, so will
ich dich für einen guten Schützen achten. Der gute
Tell erschrak, fleht um Gnade, und daß man ihm
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_248.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)