man den Jungfernsprung zu zeigen und davon zu erzählen
pflegt: vorzeiten sey eine Jungfrau in das jetzt
zertrümmerte Bergkloster zum Besuch gekommen. Ein
Bruder sollte sie herumführen und ihr die Gänge und
Wunder der Felsengegend zeigen; da weckte ihre Schönheit
sündhafte Lust in ihm und sträflich streckte er seine
Arme nach ihr aus. Sie aber floh und flüchtete
von dem Mönche verfolgt den verschlungenen Pfad entlang;
plötzlich stand sie vor einer tiefen Kluft des Berges
und sprang keusch und muthig in den Abgrund.
Engel des Herrn faßten und trugen sie sanft ohne einigen
Schaden hinab.
Andere behaupten: ein Jäger habe auf dem Oybin ein schönes Bauernmädchen wandeln sehen und sey auf sie losgeeilt. Wie ein gejagtes Reh stürzte sie durch die Felsengänge, die Schlucht öffnete sich vor ihren Augen und sie sprang unversehrt nieder bis auf den Boden.
Noch andere berichten: es habe ein rasches Mädchen mit ihren Gespielinnen gewettet, über die Kluft wegzuspringen. Im Sprung aber glischte ihr Fuß aus dem glatten Pantoffel und sie wäre zerschmettert worden, wo sie nicht glücklicherweise ihr Reifrock allenthalben geschützt und ganz sanft bis in die Tiefe hinunter gebracht hätte.
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_455.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)