Seite:Deutsch Franz Jahrbücher (Ruge Marx) 177.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

wir brauchen diesen Umweg nicht, wir brauchen dem wahrhaft Menschlichen nicht erst den Stempel des „Göttlichen“ aufzudrücken, um seiner Grösse und Herrlichkeit sicher zu sein. Im Gegentheil, je „göttlicher,“ d. h. unmenschlicher etwas ist, desto weniger werden wir es bewundern können. Nur der menschliche Ursprung des Inhalts aller Religionen rettet ihnen hier und da noch etwas Anspruch auf Respekt; nur das Bewusstsein, dass selbst der tollste Aberglaube doch im Grunde die ewigen Bestimmungen des menschlichen Wesens enthalte, wenn auch in noch so verrenkter und verzerrter Form, nur dies Bewusstsein rettet die Geschichte der Religion und namentlich des Mittelalters vor der totalen Verwerfung und vor dem ewigen Vergessen, was sonst allerdings das Schicksal dieser „gottvollen“ Geschichten sein würde. Je „gottvoller,“ desto unmenschlicher, desto thierischer, und das „gottvolle“ Mittelalter produzirte allerdings die Vollendung menschlicher Bestialität, Leibeigenschaft, jus primae noctis u. s. w. Die Gottlosigkeit unseres Zeitalters, worüber Carlyle so sehr klagt, ist eben seine Gotterfülltheit. Hieraus wird auch klar, weshalb ich oben den Menschen als die Lösung des Sphynxräthsels angab. Die Frage ist bisher immer gewesen: Was ist Gott? und die deutsche Philosophie hat die Frage dahin gelöst: Gott ist der Mensch. Der Mensch hat sich nur selbst zu erkennen, alle Lebensverhältnisse an sich selbst zu messen, nach seinem Wesen zu beurtheilen, die Welt nach den Forderungen seiner Natur wahrhaft menschlich einzurichten, so hat er das Räthsel unserer Zeit gelöst. Nicht in jenseitigen, existenzlosen Regionen, nicht über Zeit und Raum hinaus, nicht bei einem der Welt inwohnenden oder ihr entgegengesetzten „Gott“ ist die Wahrheit zu finden, sondern viel näher, in des Menschen eigener Brust. Des Menschen eigenes Wesen ist viel herrlicher und erhabener, als das imaginäre Wesen aller möglichen „Götter,“ die doch nur das mehr oder weniger unklare und verzerrte Abbild des Menschen selbst sind. Wenn also Carlyle nach Ben Jonson sagt, der Mensch habe seine Seele verloren und fange jetzt an ihren Mangel zu merken, so würde der richtige Ausdruck dafür sein: der Mensch hat in der Religion sein eigenes Wesen verloren, sich seiner Menschheit entäussert, und merkt jetzt, nachdem die Religion durch den Fortschritt der Geschichte wankend geworden ist, seine Leerheit und Haltlosigkeit. Es ist aber keine andre Rettung für ihn, er kann seine Menschheit, sein Wesen nicht anders wieder erobern, als durch eine gründliche Ueberwindung aller religiösen Vorstellungen, und

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Engels: Die Lage Englands. In: Deutsch-Französische Jahrbücher. Bureau der Jahrbücher, Paris 1844, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsch_Franz_Jahrb%C3%BCcher_(Ruge_Marx)_177.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)